«Meine Mutter wollte dieses Kind nicht bekommen»
Wenn der Geburtstag meines Bruders Lukas* näher rückte, erzählte meine Mutter manchmal davon, wie sie, schwanger mit ihm und schon im OP-Hemd, vom Krankenhausbett gesprungen war. In letzter Sekunde hatte sie beschlossen, ihn auf die Welt zu bringen, statt eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Jedes Mal erschrak ich darüber, dass es Lukas mit den blauen, sanften Augen, der so gern mit Puppen spielte, um ein Haar nicht gegeben hätte. Ich wusste, dass meine Mutter sich über die Schwangerschaft mit mir, ihrer ersten Tochter, sehr gefreut hatte. Ich verstand nicht, weshalb Lukas nicht ebenso freudig erwartet worden war. Doch mein Bruder lebte, und dieses gute Ende beruhigte meine Verunsicherung.
Nach mir, meiner Schwester Nina* und meinem Bruder Lukas bekam meine Mutter einen weiteren Jungen, Milan*. Während ihrer Schwangerschaft durfte ich fühlen, wie er sich in ihrem dicken Bauch bewegte. Ich staunte über sein winziges Köpfchen, das aus einem riesigen Kissen lugte, als ich ihn zum ersten Mal sah. Stolz war ich, wenn ich ihn halten und mit der Flasche füttern durfte. Als er heranwuchs, dachte ich mir Geschichten für ihn aus, brachte ihm das Radfahren bei und tröstete ihn, wenn er nachts Albträume hatte.
Schweres Schweigen
Beinah acht Jahre alt war Milan, als meine Mutter mir erzählte, dass sie wieder schwanger war. Bis heute weiss ich nicht, ob auch meine Geschwister von dieser Schwangerschaft erfahren haben. In meiner Familie liegt ein schweres Schweigen darüber, wie eine Steinplatte, die niemand anzuheben wagt.
Als sie ihre letzte Schwangerschaft entdeckte, war meine Mutter fünfunddreissig Jahre alt. Ich selbst war dreizehn, alt genug, um wahrzunehmen, dass sie sich nicht freute. Ich dagegen freute mich sehr. Umso mehr schockierte mich, als meine Mutter andeutete, dieses Kind nicht bekommen zu wollen. Selbst fast noch ein Kind, erkannte ich plötzlich, wie vollständig abhängig jedes Kind von seinen Eltern ist. Nie zuvor hatte ich eine Furcht wie diese erlebt: dass mein ungeborenes Geschwisterkind von meinen Eltern nicht angenommen werden könnte. Für eine kurze Zeit klammerte ich mich an das, was ich meinen Vater zu meiner Mutter sagen hörte: «Haben wir vier Kinder geschafft, schaffen wir auch fünf!» Doch ich hatte auch gesehen, wie meine Mutter dazu den Kopf schüttelte. Sie hatte sich entschieden, dieses Kind nicht zu bekommen. Ihre Gründe ahnte ich. Die Ehe meiner Eltern war von Streit zerfressen, beide waren arbeitslos. Ich versuchte zu verstehen, aber mein Fühlen verstand nicht.
Stille Trauer
In dieser Zeit sah ich meinen Bruder Lukas, der zehn Jahre früher nicht abgetrieben worden war, mit anderen Augen an. Sein Gesicht erzählte mir, dass ein wirklicher Mensch im Bauch meiner Mutter heranwuchs. Ein Mensch mit einer Haar- und Augenfarbe, einem Geschlecht, konkreten Eigenschaften und Talenten – so wie Lukas. Das Kind im Bauch meiner Mutter kam mir ausgeliefert vor, vollkommen schutzlos. Niemand konnte es retten. Trotzdem versuchte ich es. Abend für Abend legte ich meiner Mutter Zettel auf das Kopfkissen. Anfangs waren sie mit Versicherungen beschrieben: dass ich ihr helfen würde mit dem Baby. Später mit Bitten: dass sie es doch zur Welt bringen und zur Adoption freigeben möge, damit es wenigstens leben könne. Ich legte meine Babypuppensachen zu den Zetteln, um meine Mutter an die Freude zu erinnern, die uns Milan als Baby gemacht hatte.
Es war ein grauer Tag im Februar, als meine Mutter nach dem Abbruch aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Mein Vater hatte Kuchen gekauft, was meine Geschwister sehr freute. Ich weiss noch, dass ich kein Stück davon essen konnte. Ein Sturm aus Gedanken tobte in mir: Wie ungerecht war es, dass manche Kinder gewollt und erwartet, andere dagegen abgelehnt wurden! Wäre ich das späte Baby gewesen, hätte meine Mutter auch mich nicht gewollt. Was bedeutete also ihre Liebe? Wie gross war die Macht von Müttern, mit der sie über Leben und Tod entschieden. Durfte das so sein? Rückblickend erkenne ich, dass ich hilflos um das tote Baby trauerte und mit meiner stillen Trauer sehr allein blieb. Nach dem Abbruch gab es mit meiner Mutter kein Gespräch mehr über das, was geschehen war. Auch mein Vater sprach nie darüber. Kurz darauf trennten sich meine Eltern.
Vollkommen geliebt
Wie meine Mutter war auch ich fünfunddreissig Jahre alt, als ich nach zwei Kindern mit unserem Nachzügler schwanger wurde. Anders als bei meinen anderen Schwangerschaften wich mir meine Mutter diesmal auffällig aus. Sie vermied es, mich schwanger zu sehen. Ich kann nur vermuten, dass meine letzte Schwangerschaft ihre eigene Geschichte berührte. Sicher bin ich mir dagegen, dass jedes Leben, ob geboren oder nicht, das Leben der Menschen verändert, die mit ihm verbunden sind.
Jedes Jahr im Februar denke ich an mein ungeborenes Geschwister. Ich bete für es und hoffe, dass es bei Gott einen Platz hat, wo es sich vollkommen angenommen und geliebt weiss.
*Alle Namen wurden geändert.
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