Woher kommt diese Empörung?
Anfang Mai wurde in den USA ein vom Supreme Court verfasstes Schreiben publik, laut dem eine Mehrheit der neun obersten Richterinnen und Richter Amerikas bereit scheint, das Urteil von 1973, das unter der Bezeichnung «Roe v. Wade» bekannt ist, zu kippen. Sollte es dazu kommen, könnten die US-Bundesstaaten wieder selber darüber entscheiden, ob sie Abtreibungen erlauben oder nicht (Livenet berichtete). 26 Bundesstaaten haben Gesetzesentwürfe in petto, die Abtreibungen verbieten oder erschweren würden.
Enorme Aufregung
Die Aufregung, welche die blosse Möglichkeit eines solchen Entscheides auslöste, ist enorm. In den USA kam es zu spontanen Protesten und Demonstrationen. Aber auch in der Schweiz sind Befürchtungen laut geworden, dass es «konservativen Kreisen» gelingen könnte, die geltende liberale Fristenlösung wieder zu kippen. Die «Schweiz am Wochenende» vom 14. Mai hat das Thema gleich auf drei Seiten ausgebreitet.
Die Tendenz darin ist klar: Die liberalen Abtreibungsgesetze sind ein hart erkämpftes Gut. Doch konservative und religiöse Kreise wollen die Freiheit der Frauen wieder einengen. Die Autorinnen verweisen zum Beispiel auf zwei Volksinitiativen. Eine davon will Spätabtreibungen einschränken, die andere einen Tag Bedenkzeit vor einer Abtreibung einführen. Ist das ein Grund für so viel Aufregung?
Hinterhältige Motive?
Der Artikel hinterfragt die Motive der Kritikerinnen der liberalen Gesetzgebung und zitiert FDP-Politikerin Claudine Esseiva. Diese ortet bei den Abtreibungsgegnerinnen ein strategisches Vorgehen. «Die rechts-konservativen und religiösen Kreise bewirtschaften das Thema seit Jahrzehnten. Sie streuen Zweifel bei den Schwangeren.» Eigentlich gehe es diesen immer um dasselbe: «Eine Abtreibung ist ein Symbol der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmung der Frau.» Das werde als Gefahr wahrgenommen.
Das eigentliche Dilemma
Ob sie damit völlig Unrecht hat, sei dahingestellt. Esseiva weicht jedoch dem eigentlichen Dilemma aus. Bei Paaren, die ungewollt ein Kind zeugen und damit ihr Leben auf den Kopf stellen, wenn das Kind auf die Welt kommt, kann man verstehen, wenn sie gleich an eine Abtreibung denken. Und die Hauptbetroffene ist ja meistens die Frau.
Doch die Befürworterinnen der Abtreibungsfreiheit blenden aus, dass es dabei immer um ein menschliches Wesen geht, das mit einem Entscheid gegen das Kind ausgelöscht wird. Darf das Recht des gezeugten Kindes wirklich hinter dem Recht auf eine autonome Entscheidung der Mutter zurückgestellt werden? In diesem Punkt tickt die Mehrheitsgesellschaft heute schizophren, wenn man etwa bedenkt, mit welchem Einsatz man den Erhalt von menschlichen Leben bei den Corona-Massnahmen verteidigt und dazu Freiheiten eingeschränkt hat.
Den Entscheid für das Leben erleichtern
Ein Zurück zu den Zeiten, wo man Frauen nach einer Abtreibung verurteilt und eingesperrt hat, darf es nicht mehr geben. Doch die Gesellschaft muss Wege finden, den betroffenen Frauen bei der Entscheidfindung zu helfen und Bedingungen schaffen, wo auch ungewollt gezeugte und geborene Kinder gute Lebensbedingungen vorfinden. Ein Kind zu bekommen, darf konsequenterweise nicht in die Armut führen, wie dies heute oft noch der Fall ist. Gerade alleinstehende Mütter brauchen nebst finanzieller Unterstützung eine gute Begleitung und Anschluss an Familien wie zum Beispiel in einer christlichen Gemeinde oder Kommunität.
Es genügt nicht, nur die bestehenden Regelungen zu verschärfen, ohne auch soziale Fortschritte zu machen. Darüber müssen bürgerliche Parteien nachdenken. Aber auch feministische und linke Kreise sollten die existierenden privaten Initiativen wertschätzen und unterstützen, statt sie zu diskreditieren.
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Datum: 17.05.2022
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet