Evangelikale Eltern mit homosexuellen Kindern
Immer wieder wird das Thema Homosexualität gerade im freikirchlichen Umfeld kontrovers diskutiert: Warum ausgelebte Homosexualität Sünde sei bzw. warum nicht. Wie die Betroffenen darunter litten. Dass Gemeinde bei einem Umdenken ihre Identität preisgeben würde. Gleichzeitig wird immer mehr Christen klar, dass sich diese Fragen nicht ohne ein Einlassen auf die persönliche Situation homosexuell empfindender Menschen werden lösen lassen. Theologie ist ohne Biografie eben nicht denkbar. Einen Aspekt dabei hat der US-Autor Victor Clemente gerade für das evangelikale Magazin «Christianity Today» angesprochen: Wie gehe ich mit der Thematik um, wenn es keine theoretische Frage ist, sondern ich als konservativ geprägtes Elternteil homosexuelle Kinder habe?
Hilfe und Gespräch sind nötig
«Für evangelikale Eltern, die an den traditionellen Lehren der Kirche zu Geschlechterrollen und Sexualität festhalten, bedeutet es den Beginn einer schwierigen Reise, wenn sie sich mit der Realität ihrer LSBTQ-Kinder in ihrem Haus auseinandersetzen müssen.» Sie fühlen sich überrumpelt, suchen Anleitung und Verständnis. Sie müssen Entscheidungen treffen, haben aber Angst, alles «falsch» zu machen – oder schon falsch gemacht zu haben. Um hier praktisch weiterzuhelfen und diesen Eltern Austausch und ein Forum zu bieten, veranstaltete der einflussreiche Pastor Andy Stanley in seiner Gemeinde 2023 eine «Unconditional Conference». Weil als Redner auch solche eingeladen waren, die nicht die evangelikale Ablehnung von Homosexualität als Sünde vertraten, kam es zu deutlicher Kritik an der Veranstaltung, die für etliche «eine klare und tragische Abkehr vom biblischen Christentum» war (Albert Mohler).
Victor Clemente ist selbst Vater erwachsener LGBTQ-Kinder und hält fest: «Ich teile einige der Bedenken der Kritiker, aber ich glaube auch, dass wir amerikanischen Evangelikalen, die an den historischen Lehren des Christentums zu Sex und Gender festhalten – die traditionelle oder ‘nicht-zustimmende’ Position, wie es im aktuellen Sprachgebrauch heisst –, mehr und nicht weniger Gespräche über zutiefst praktische Fragen brauchen, wie wir den LGBTQ-Menschen in unserem Leben gute Nächste sein können, ob das in unseren Wohnungen ist, an unseren Arbeitsplätzen oder in unseren Kirchgemeinden.»
Unterstützung statt Kulturkampf
Clemente schreibt von den wenigen Angeboten für Christen in seiner Situation – von denen es im deutschsprachigen Raum noch einmal weniger gibt, wie zum Beispiel die Plattform «endlichreden». Für ihn ist klar: «Jenseits von Büchern oder Online-Kursen brauchen wir Gespräche aus dem wirklichen Leben über konkrete Situationen. […] Die blosse Wiederholung der richtigen Lehre reicht allein nicht aus, um die praktischen Fragen zu beantworten, wie wir mit unseren Kindern leben können.»
Clemente kennt Auseinandersetzungen über unterschiedliches Partnerschaftsverständnis aus eigener Erfahrung. Doch wie soll man mit erwachsenen Kindern umgehen, die sich für ein Leben entscheiden, das der eigenen Prägung widerspricht? Viele der kritischen Reaktionen auf die «Unconditional» Konferenz und die LGBTQ-Fragen macht Clemente an der evangelikalen Sorge fest, dass «eine offene Auseinandersetzung mit diesen Grundsatzfragen unweigerlich zu einer erheblichen theologischen Abweichung führen wird, die schlimme Folgen für die Kirche und die Menschen hat». Die dadurch entstandene «Kulturkampfmentalität» neigt seiner Meinung nach dazu, LGBTQ-Menschen als Feinde zu sehen, die ständig mit der Wahrheit konfrontiert werden müssen. Diese Haltung ist allerdings nicht das, was normales Familienleben widerspiegelt – wie unterschiedlich die dort vorhandenen Meinungen auch sein mögen.
Liebe und Klarheit
Kampfmentalität wird keinem Familienleben gerecht. Paulus unterstreicht im Hinblick auf unterschiedliche Auffassungen (bis hin zur Feindschaft): «Ist es möglich, soviel an euch liegt, so haltet mit allen Menschen Frieden.» (Römer, Kapitel 12, Vers 18) Natürlich kann hierbei eine Spannung zwischen dem entstehen, was man denkt und wie man sich verhält – theologisch gesehen stösst hier Orthodoxie auf Orthopraxie. Doch auch die eigene Fehlbarkeit spielt hier für Clemente eine wichtige Rolle, «denn Gottes Wort ist zwar absolut vertrauenswürdig, aber unsere Anwendung des Wortes ist es vielleicht nicht». So gibt es kein Patentrezept für strenge oder flexible Entscheidungen. Doch diese Entscheidungen müssen im Familienalltag in Liebe getroffen werden: Sagen wir auf Wunsch «sie» oder «er» zu einer Transperson? Nehmen wir an einer gleichgeschlechtlichen Hochzeit unserer Kinder oder Kollegen teil? Erlauben wir es, dass unsere erwachsenen Kinder mit ihren gleichgeschlechtlichen Partnern im selben Bett schlafen, wenn sie zu Besuch kommen?
Was sich für viele weit hergeholt oder als theoretische Übung anhört, sind für Victor Clemente und viele konservativ-christliche Eltern harte Alltagsfragen, auf die sie oft ohne grosse Vorbereitung Antworten finden müssen. Er betont: «Es sind diese Art von Fragen, bei denen christliche Eltern wie ich sich danach sehnen, in Gesprächen mit unseren Pastoren und Freunden in der Kirche Antworten zu finden.» Dabei geht es Clemente gar nicht so sehr um eine für immer irrtumslose Antwort, sondern vielmehr darum, miteinander ins Gespräch zu kommen und zu lernen. Hoffnungsvoll zitiert er «Gott kennen» von J. I. Packer mit der Erwartung: «Daher scheint es, dass der richtige Kontext für die Diskussion über göttliche Führung das Vertrauen in den Gott ist, der nicht zulassen wird, dass wir unsere Seelen ruinieren.»
Sehen Sie hier einen Talk mit Regula Lehmann zu diesem Thema:
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Datum: 19.06.2024
Autor:
Hauke Burgarth / Victor Clemente
Quelle:
Livenet / Christianity Today