Eine peinliche Debatte der «Bibeltreuen»
Ihr Predigtentwurf sei gut, aber man müsse korrekterweise von einer Bibelarbeit reden, da ja höchst umstritten sei, ob Frauen predigen dürfen. Dieses Feedback ihres Homiletikdozenten einer bibeltreuen Ausbildungsstätte hat Antonia* regelrecht erschüttert. Sie ist sich als Journalistin gewohnt, über Fragen des Glaubens zu einem christlichen Publikum zu sprechen. Aber vor einer Gemeinde predigen? Das scheint für etliche noch ein heisses Eisen zu sein!
Zwar sind die Meinungen dazu auch unter evangelischen Christen geteilt. Theologen und Gemeindeleiter, die ihre «Bibeltreue» betonen, halten tendenziell am Predigtverbot für Frauen fest, auch wenn sie sich bewusst sind, dass ihre Gemeindeglieder sich im Fernsehen die Predigten von Joyce Meyer einziehen und in Frauenzeitschriften die Artikel profilierter Autorinnen lieben – oder den Frauenblog morethanpretty.net mitverfolgen.
Führt die Liebe zur Bibel zur Lieblosigkeit gegenüber Mitchristen?
Aufgerüttelt hat diese Konservativen die in Buchform im fontis-Verlag unter dem Titel «Yes, she can» erschienene Masterarbeit von Christian Haslebacher. Die idea-Redaktion hatte den Chrischona-Regionalleiter dazu interviewt und es als sinnvoll erachtet, dazu auch eine kritische Rezension des Buches durch einen emeritierten Professor für Praktische Theologie der STH Basel abzudrucken.
Die in der Folgenummer erschienenen Leserbriefe machten auf ihre Weise klar, dass Haslebacher «falsch» liegt. Über die Reaktionen, die darauf bei ihm eingingen, schreibt der Chrischona-Theologe in der neuesten Ausgabe von idea Spektrum unter anderem: «Als lieblos empfinde ich es, wenn mir, der ich mich seit Jahrzehnten täglich aus der Bibel nähre, aus der Distanz aufgrund einer anderen Schlussfolgerung die Liebe und Treue zur Bibel abgesprochen werden. Unangebracht finde ich so manche gehässige und sarkastische Bemerkung...».
Lieber der Bibel treu als dem Beispiel Jesu?
Der gemeinsame Nenner aller Kritiker besteht darin, dass an der bekannten Anweisung von Paulus in seinem ersten Brief an Timotheus (Die Bibel, 1. Timotheus, Kapitel 2, Vers 12-14) nicht zu rütteln sei. Da dürfen Gläubige für einmal alle Prinzipien der Bibelauslegung vergessen. Zum Beispiel den Grundsatz, dass eine Bibelstelle in den Zusammenhang des ganzen Bibelbuches, dann in den Kontext des Neuen Testaments und schliesslich der ganzen Bibel zu stellen ist. Oder dass je nach Text auch der zeitgenössische Kontext zu berücksichtigen sei. Grundsätze, welche schon in den ersten Jahren der STH Basel (der damaligen FETA Basel unter Prof. Samuel Külling, der auch die bekannte Chicagoer Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel unterzeichnet hatte) gelehrt wurden. Oder den reformatorischen Grundsatz, dass eine biblische Lehre immer an der Person von Jesus Christus gemessen werden soll. Luther sagte es so: «Was Christum treibet». Oder modern gesagt: Was würde Jesus tun?
Der Gender-Ideologie verfallen?
Lehraussagen über die Rolle der Frau in der Kirche müssen somit nicht nur alttestamentlichen Erzählungen über herausragende Frauen, sondern auch Kriterien standhalten, die Jesus im Umgang mit Frauen vorgelebt hat und von denen die Evangelien berichten. Er hat sich dabei der Kritik der Zeitgenossen ausgesetzt, weil er den patriarchalen Rollenmustern seiner Zeit getrotzt hat. Die Konsequenz daraus müsste sein, dass die bibeltreuen Christen schon lange vor der Abstimmung über das Frauenstimmrecht die Charismen der Frauen in der christlichen Gemeinde entdeckt und sie zum Segen der Gemeinde eingesetzt hätten. Und dass sie damit der sie umgebenden bürgerlich geprägten Gesellschaft vorausgegangen wären, statt ihr hintennach zu hinken. Die Pfingstbewegung in Europa und der Schweiz entstand zum Beispiel massgeblich durch die Predigt von zwei Frauen. Danach dauerte es Jahrzehnte, bis Frauen in den Gemeinden wieder predigen durften.
Dieser Konservativismus im Festhalten traditioneller biblischer oder auch gesellschaftlicher Werte hat seine Berechtigung, wo es um die zeitgeistige Relativierung des menschlichen Lebens vor der Geburt und im Alter geht. Er darf aber nicht alle Bereiche des Gemeindelebens beeinflussen. Schon gar nicht dürfte er zur Relativierung von Charismen führen, die Gott in die Gemeinde gelegt hat. Der in einem idea-Leserbrief erhobene Vorwurf, Gemeinden, die Frauen predigen und lehren lassen, seien der Gender-Ideologie verfallen, muss wohl nicht weiter kommentiert werden.
*Name verändert
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Datum: 26.07.2016
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet