Zurück in die Zukunft
Denn trotz aller Irrungen und Wirrungen einer machtbesessenen klerikalen Lobby, trotz der Gräuel der Kreuzzüge und der Inquisition ist die Geschichte der Kirche auch eine Geschichte der Gnade. Kommen Sie mit auf einen Streifzug durch 2000 Jahre Christentum.
Ein junger Mönch stand vor dem mächtigsten Herrscher Europas, der auf einem Podium sass, umringt von Ratsherren und Repräsentanten Roms. Spanische Truppen in Paradeuniformen umrahmten das Szenario. Bischöfe, Fürsten und Repräsentanten grosser Städte füllten den Rest des Saales. Inmitten dieser eindrucksvollen Versammlung stand ein Tisch, auf dem ein Stapel Bücher lag. Einer der Männer zeigte auf die Bücher und stellte dem jungen Mönch zwei Fragen: Hatte er diese Bücher geschrieben? Und würde er einen Teil von ihnen jetzt widerrufen?
Der Mönch, Sohn eines Bergmanns, der jetzt Lehrer auf einer wenig bedeutsamen Universität war, zögerte. Seine Stimme war kaum vernehmbar: «Diese Bücher gehören allesamt mir, und ich habe noch mehr geschrieben.» Und auf die zweite Frage antwortete er: «In ihnen geht es um Gott und sein Wort. Es geht um die Errettung von Seelen. Ich bitte Euch, gebt mir Zeit!»
Man gewährte ihm einen Tag. Am nächsten Abend war der Raum erneut von Würdenträgern gefüllt. Im flackernden Licht der Fackeln fragte man ihn noch einmal: "Werdet Ihr diese Bücher verteidigen oder widerruft Ihr einiges von dem, was Ihr gesagt habt?" Der junge Mann wandte sich seinen Anklägern zu und...
Wirklich langweilig?
Lassen Sie mich die Geschichte an dieser Stelle unterbrechen und Sie daran erinnern, dass Kirchengeschichte etwas Langweiliges ist. Sie ist bloss ein Bündel hohler Daten und Namen, die allesamt bedeutungslos sind. Das ist zumindest das, was die meisten Leute behaupten, wenn ich ihnen erzähle, dass ich Herausgeber eines Magazins für Kirchengeschichte bin. Manchmal sagen sie es mit Worten. Aber meistens sagt es ihr Blick: «Ach, ja? Wie schön für Sie!» Die Wahrheit aber ist: Kirchengeschichte ist nicht nur interessant, sondern auch bedeutungsvoll - und das wegen einiger offensichtlicher und einiger verborgener Gründe.
Eine Portion Mut
Um den ersten Grund zu untermauern, muss ich zu der Geschichte unseres Mönchs zurückkehren. Der Ort an dem sie stattfand, hiess Worms. Es war ein Tag im April 1521. Der Herrscher, der die Anhörung einberufen hatte, war der heilige römische Kaiser Karl V. Und das Problem? Karl V. und die römisch-katholischen Repräsentanten, die anwesend waren, glaubten, dass dem Papst die letzte Autorität in Fragen des Glaubens und der Kirchenpraxis gehöre. Der Mönch aber glaubte, sie gehöre allein der Heiligen Schrift.
Der Untersuchungsrichter forderte: «Ihr müsst eine einfache, klare und rechte Antwort auf die Frage geben: Widerruft Ihr oder nicht?» Die Antwort des Mönchs wurde berühmt: «So lange ich nicht mit einem Beweis aus der Heiligen Schrift überführt werde, kann und will ich nicht widerrufen.» Und im Wissen darum, dass seine Antwort ihm das Gefängnis oder den Tod bringen könnte, schloss er: «Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.»
Dies war ein heldenhafter Moment in der Geschichte des Christenturms und Martin Luther war der Held. Und obwohl diese Begebenheit immer wieder gerne und in verschiedenen Zusammenhängen erzählt wird, hat sie immer noch die Kraft, uns zu inspirieren, auch in unserer Zeit mutig für den eigenen Glauben einzustehen.
Standhaft gegen die Gesellschaft
Zwei weitere Dinge, die man aus der Betrachtung der Kirchengeschichte gewinnen kann, sind Weisheit und Hoffnung. Zum Beispiel sind viele Christen heutzutage über die immer stärker um sich greifende Säkularisierung unserer Gesellschaft besorgt. Nur schwerlich findet man Videofilme, die keine ausgedehnte Sexszene oder Gewalt oder Gotteslästerung beinhalten. New Age-Gedankengut wird für gewöhnlich «cool» dargestellt, während man Christen als Fanatiker oder Ketzer zeigt. Und mit der Verweltlichung der Gesellschaft kommt die Entmutigung der Christen. Was können sie bloss tun, wenn die gesamte Gesellschaft scheinbar dem «breiten, verführerischen Weg» geradezu entgegenstürmt?
Dabei ist es gar nicht so, dass die Kirche sich noch nie in einer solchen Situation befunden hätte. Im 1. Jahrhundert n.Chr. belief sich die Zahl der Christen auf 0,0034 Prozent der damaligen Bevölkerung des römischen Imperiums. Sie waren umgeben von heidnischen Kulten und einer Gesellschaft, die nichts Anstössiges in praktizierter Homosexualität, in Sauforgien (besonders denen, die bei religiösen Festen abgehalten wurden) und Säuglingsmord (besonders von Mädchen) sah. Und was taten die Christen? Sie lebten nach der Lehre, die ihnen in der Bergpredigt gegeben wurde. Sie bezeugten voller Stolz ihren Glauben, wenn sie verfolgt wurden und waren bereit, dafür ins Gefängnis zu gehen oder sogar zu sterben. Sie verfassten philosophische Verteidigungsschriften über ihren Glauben. Sie ernährten und kleideten die Armen und retteten Kinder vor dem Tod. Und sie beteten Gott in einer Art und Weise an, die sie völlig von ihrer heidnischen Umwelt unterschied.
All das hinterliess langsam seine Spuren. Im frühen 4. Jahrhundert waren die Christen eine so mächtige und anerkannte Minderheit (ungefähr 10 Prozent der Bevölkerung), dass sich sogar der römische Kaiser Konstantin mit der christlichen Lehre identifizierte. Hier finden wir also nicht nur Weisheit, sondern wir lernen etwas darüber, wie wir in einer säkularisierten Gesellschaft als Christen Zeichen setzen können. Und wir sehen ein Bild der Hoffnung: Obwohl die Umstände für die Christen des 1. Jahrhunderts viel schlechter waren als heute, hat die Gute Nachricht des Evangeliums schliesslich doch den Sieg davongetragen.
Die Geschichte der Gnade
Doch die Kirchengeschichte erzählt nicht nur die Geschichten von Helden und Siegern. Sie erzählt auch die Geschichte des Versagens, die Geschichte unvollkommener Männer und Frauen, die verzweifelt versuchten, Gott zu lieben, und die genau so verzweifelt von Zeit zu Zeit Fehler machten – und trotzdem von Gott gebraucht wurden. So ist die Geschichte der Kirche auch die Geschichte der Gnade.
Wussten Sie z. B., dass Martin Luther leidenschaftlich fluchte und am Ende seines Lebens die Juden verleumdete? Wussten Sie, dass der grosse Evangelist George Whitefield Sklaven kaufte, obwohl er vorher gegen die Sklaverei gepredigt hatte? Wussten Sie, dass der Indien-Missionar William Carey für die längste Zeit seines missionarischen Dienstes ein gleichgültiger Ehemann und ein Vater war, der seine Kinder ablehnte? Und wussten Sie auch, dass Gott diese Menschen trotzdem auf ganz besondere Weise gebrauchte, um seine Arbeit voranzutreiben? Carey wird der «Vater der modernen Mission» genannt, weil er Hunderte von Männern und Frauen in England und den USA dazu inspirierte, sich in die Mission nach China, Afrika und Indien zu begeben. George Whitefield predigte zu mehr Menschen als es je ein Mann vor ihm in der Geschichte getan hatte, und Zigtausende wurden in Jesus geistlich neu geboren und damit Gottes Kinder. Und Martin Luther befreite den christlichen Glauben von der Dekadenz der guten Werke und der Korruption des späten Mittelalters. Nicht schlecht für einen Haufen Sünder, oder?
Genau das ist der Punkt. Die Geschichte wäre sehr entmutigend, wenn sie nur von heldenhaften Männern und Frauen berichten würde, die von Triumph zu Triumph eilen. Sie hat ihren Anteil an Helden, aber auch an Menschen wie Ihnen und mir, die die Taten der Helden vervollständigen – nicht auf Grund dessen, wer sie sind, aber auf Grund dessen, wer ihr Gott ist.
Eine Reise durch die Zeit
Entgegen der allgemeinen Meinung geht der Heilige Geist am Ende des Neuen Testamentes nicht in Rente, schaut zu Zeiten Martin Luthers kurz mal wieder vorbei, um dann Urlaub zu machen, bis ein Billy Graham die Szenerie betritt. Die Wahrheit ist, dass Gott auch in den Jahrhunderte lang andauernden Trockenperioden aktiv war, häufig sogar sehr aktiv: Er liess Prediger aufstehen, erneuerte Kirchen, hinterfragte den allgemeinen Status Quo, veränderte Leben – und in den meisten Zeiten tat er das mit Hilfe von Sündern. Kirchengeschichte ist nichts anderes als die Beschreibung von Gottes gnädigem Wirken unter uns – Jahrzehnt um Jahrzehnt.
Wenn die Psalmisten in Zeiten der Verzweiflung gestärkt werden wollten, begannen Sie oft damit, einen Blick in die Geschichte zu werfen: «Erinnert euch an die Wunder, die Gott getan hat! Denkt immer wieder an seine mächtigen Taten und die Urteile, die er fällte» (Psalm 105, Vers 6). Tatsächlich ist dieser ganze Psalm eine geschichtliche Ballade über Gottes Wirken für seine Leute.
Kirchengeschichte ist eine bemerkenswerte Sammlung von Geschichten über Gottes Arbeiten in seiner Gemeinde. Und sie zu studieren, ist eine abenteuerliche geistliche Zeitreise. Es geht nicht in erster Linie um Daten und Namen (obwohl es davon genügend gibt), sondern um Geschichten, die inspirieren und lehren und Weisheit, Hoffnung und Gnade vermitteln. Und ein Sünder wie ich, kann sich nichts Wichtigeres vorstellen, als das.
Datum: 05.03.2007
Autor: Mark Gali
Quelle: Neues Leben