Brexit oder Brexodus?

Zwischen Meinungskampf und Schockstarre

Nach dem Mord an der britischen Unterhausabgeordneten Jo Cox am vergangenen Donnerstag hat sich der heftige Wahlkampf um einen Verbleib Grossbritanniens in der EU beruhigt. Umfragen zeigen, dass die Volksabstimmung am 23. Juni knapp ausgehen wird. Die Christen begleiten sie mit Gebet.
Brexit
Erzbischof Justin Welby
Erzbischof George Carey

Die Abgeordnete Jo Cox galt als entschiedene Befürworterin eines Verbleibs in der EU und warb für eine offene Flüchtlingspolitik; sie wurde auf offener Strasse erschossen.

Gebet für Einheit des Landes

Vielen Briten galt der Mord an der Abgeordneten als Alarmsignal für eine zu harte und kompromisslose Auseinandersetzung im Vorfeld des Referendums. Die Evangelische Allianz des Landes veröffentlichte nach dem Attentat ein Gebet, in dem Gott wiederholt um sein Erbarmen gebeten wird.

In dem vorgeschlagenen Gebet der Evangelischen Allianz heisst es in einer immer wieder kehrenden Zeile: «God have mercy» - «Herr, erbarme Dich.» Darin wird Gott um Weisheit bei der Entscheidung, aber auch um Respekt im Umgang mit Andersdenkenden angerufen. Schliesslich wird darum gebeten, dass das Ergebnis der Wahl akzeptiert wird und das Land nach der Entscheidung wieder zu einer Einheit findet und zur Handlungsfähigkeit findet.

Welby: Europa steht für Frieden und Versöhnung

Bereits vor einigen Wochen hatte die Anglikanische Kirche (Church of England) darum geworben, für den laufenden Wahlkampf um die Volksabstimmung zu beten. Mit einer Positionierung in der Frage hielt sich die Kirche zurück. Demgegenüber liess Justin Welby, Erzbischof von Canterbury und Oberhaupt der Anglikanischen Kirche, zunächst vorsichtig durchblicken, dass er zum Verbleib in der EU neigt. Er machte deutlich, dass die Flüchtlingsfrage, eines der wichtigsten Argumente für die Befürworter eines Austritts aus der EU, am ehesten auf europäischer Ebene gelöst werden könne.

Inzwischen hat sich Welby deutlicher geäussert und erklärt, dass er für den Verbleib seines Landes in der EU stimmen werde. In einem Zeitungsartikel bezeichnete er die anstehende Entscheidung, als eine, die das Leben aller und das aller künftigen Generationen betreffe. Das Land habe die Wahl für sich oder als Teil der Welt zu leben. Frieden und Versöhnung seien Kernanliegen des europäischen Einigungsprozesses. Bei ihrer Entscheidung, ob das Königreich weiter Mitglied der Europäischen Union bleiben soll, sollten sich die Briten an dem Idealismus der Gründerväter der EU orientieren. «Jesus hat uns gelehrt, unsere Nachbarn zu lieben», erklärte Welby. «Wir sind am menschlichsten, wenn wir für andere da sind.»

Nicht Brexit, sondern Brexodus

Bei Christen, die für den Austritt aus der EU sind, stiess die öffentliche Parteinahme von Welby auf scharfe Kritik. EU-Skeptiker unter den Gläubigen haben sich in der Gruppe «Christians for Britain» zusammengeschlossen.

Einer der Vorgänger von Welby, der frühere Erzbischof George Carey, nahm demgegenüber Partei für einen Austritt aus der EU. Er sprach mit Blick auf ein Verlassen der EU nicht von einem Brexit, sondern von einem Brexodus, in Anlehnung an die Befreiung Israels aus dem Sklavendasein in Ägypten.

Es sei richtig mit dem Austritt einen Schritt ins Ungewisse zu gehen, um neue Chancen wahrnehmen zu können. Zwar seien Kirchenführer grundsätzlich eher für das Miteinander der Nationen, aber es zeige sich, dass die EU mit ihrer Politik eher Spaltung bringe als Kooperation. Carey kündigte an, für den Ausstieg aus der EU zu stimmen.

Kirchen-Homepage zum EU-Referendum

Mit Blick auf das Referendum informierten die Anglikanische Kirchen von England und Schottland auf einer eigenenInternetseite über die Beziehungen Grossbritanniens zu Europa. Anliegen ist es, ein Nachdenken über das zukünftige Verhältnis von Grossbritannien zu Europa anzustossen. Vor einigen Wochen veröffentlichten die Kirchen ein Gebet zum EU-Referendum, ohne sich für ein bestimmte Entscheidung auszusprechen. Darin wird für eine Diskussion in «Ehrlichkeit und Offenheit» gebeten. Und weiter: «Gib denen, die abstimmen, Urteilsvermögen».

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Datum: 22.06.2016
Autor: Norbert Abt
Quelle: Livenet

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