«Die Gesellschaft wird immer mehr zur Castingshow»
Sein neuster Roman widmet sich der Frage, wie die Spassgesellschaft überwunden werden kann.
Giuseppe
Gracia, wie wichtig sind Ihnen Freundschaften?
Giuseppe Gracia: Familie und Freunde sind das
Zentrum meines Lebens. Nicht Arbeit oder Karriere, wie es dem heutigen Ideal
entspricht. Das Ideal von heute lautet ja: Selbstverwirklichung durch Karriere
und Selbstoptimierung. Ich bin da skeptisch. Der Mensch ist ein
Beziehungswesen. Liebe und Freundschaft sind die Quelle eines gelungenen Lebens,
wärmen Herz und Seele.
«Freund und Feind»: Sie
kennen beides. Ihr Buch «Der
letzte Feind» wurde zum Bestseller. Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Es geht um die Weltverschwörung
einer globalistischen Elite, in die der Vatikan involviert ist und bei der es
um die Reduktion und Optimierung der Menschheit geht. Das hat wohl viele
angesprochen. Und natürlich gibt es auch eine Liebesgeschichte, im Herzen von Rom.
Was gab den Ausschlag zu diesem
Werk?
Bis dahin handelten meine Romane von Fremdarbeitern in
der Schweiz, von Liebe, Verlust und Familie. Aber nie von der Kirche. Das
wollte ich ändern, in Form eines Thrillers. Mit möglichst viel Substanz. Ein
Pageturner mit Tiefgang, das war das Ziel.
Wie schmal ist der Grat zwischen
realem Zeitgeschehen und szenarischen Überlegungen beziehungsweise Prognosen
eigentlich?
Ich glaube,
gute Bücher können nicht aus der Realität herausfallen. Für mich ist das Ziel eine
spannende Story mit realistischen Figuren, zu denen eine emotionale Verbindung möglich
ist. Ich gehe von der Realität aus, dann übernimmt irgendwann die Phantasie,
die Lust am Erzählen. Aber die Ausgangslage bleibt die politisch-gesellschaftliche
Situation, in der ich mich befinde.
Sie waren Sprecher des Bistums Chur
und Kirchenmitglied…
Ich bin katholisch. Ich bin nur aus
der Landeskirche ausgetreten, die eine staatliche Struktur ist und nichts mit
der eigentlichen, der sakramentalen Kirche zu tun hat. Für mich ist diese rein
schweizerische Struktur unvereinbar mit der weltweiten katholischen Kirche und
verstösst gegen die Trennung von Kirche und Staat, die mir sehr wichtig ist.
Welche beruflichen Maximen sind
Ihnen als Werte-orientiertem Journalisten wichtig?
Die Liebe zur Wahrheit und zum Leben. Intellektuelle
Redlichkeit. Das Engagement für Freiheit, eine offene Gesellschaft ohne
staatliche Bevormundung.
Ganz allgemein: Wie wichtig sind klassische
journalistische Werte wie Fairness, Ausgewogenheit, Faktenorientiertheit noch?
Ich denke,
dass heute viele Journalisten eigentlich politische Aktivisten sind. Sie nennen
es Haltungsjournalismus oder «transformativer Journalismus». Klingt toll, ist aber
eigentlich einfach Aktivismus für eine bestimmte Agenda – mit journalistischen
Mitteln. Das ist legitim, aber es muss offen deklariert werden, wie früher bei
der Parteienpresse. Leider aber wird es nicht transparent gemacht, sondern man
behauptet, ausgewogen und objektiv zu sein. Dass das nicht stimmt, spüren die Leute,
und das Misstrauen wächst.
Wie weit ist diese Entwicklung dem
(globalen) Mainstream geschuldet?
Die
Digitalisierung hat viele Medien sozusagen geglättet, in einen Einheitsstrom
der Meinungen hineingesogen, auch durch die Konzentration auf wenige grosse
Medienkonzerne. Da sich viele Journalisten ausserdem mit dem links-grünen
Spektrum identifizieren, ist dieser Mainstream auch entsprechend gefärbt.
Ändern würde sich das erst, wenn es mehr liberal-bürgerliche oder konservative Medienschaffende
gäbe – und Verleger, die solche Stimmen finanziell tragen.
In «Glorias Finale», Ihrem neuen Buch, werfen Sie einen
kritischen Blick auf die Unterhaltungsindustrie. Ihre Motivation?
Mir kam die Idee zum Buch, als ich mit meiner kleinen Tochter den «Eurovision
Song Contest» schaute. Ich habe mich gefragt, was eigentlich mit den Menschen
passiert, die durchs Showgeschäft über Nacht zum Star werden und dann, wenn sie
nicht gewinnen, über Nacht wieder von der Bildfläche verschwinden.
«Brot und Spiele» wie bei den alten
Römern, einfach peppig aufgemotzt?
Im Roman werden die Akteure auf der Bühne als «Augenfutter» fürs Publikum bezeichnet. So gesehen ist es ein wenig wie bei den
Gladiatoren – ohne Blut, ohne körperliche Gewalt. Dafür gibt es psychische
Gewalt unter der hochauflösenden Oberfläche.
… ein sehr kritischer Blick!
Ich sehe in der Castingshow eine Art Spiegel
unserer Zeit. Bei uns mutiert alles
zum Casting: das Jobinterview, die Datingplattform, das Büro, die Discothek. Die ganze Gesellschaft drängt
Menschen zur Selbstausbeutung im Namen der Selbstverwirklichung. Meine Heldin Gloria durchschaut das und möchte die Show töten. Der Roman stellt die
Frage, ob sich diese Casting-Gesellschaft überhaupt überwinden lässt.
Wer sollte Ihr neues Buch lesen?
Alle, die Freude haben an einer starken, jungen
Frauenfigur, die sich gegen die Ausbeutung auflehnt. Alle, die gern an einen
spannenden Plot haben, kombiniert mit einem ungeschminkten Blick hinter die
Kulissen des Showgeschäfts.
Aktuell wird diskutiert, ob die
Leitmedien noch mehr Subventionen erhalten sollen. Stärkt oder gefährdet das
die Unabhängigkeit «freien Presse»?
So wie ich
für die Trennung von Kirche und Staat bin, bin ich für die Trennung von Medien
und Staat. Wer zahlt, befiehlt. Und wenn der Staat Medien bezahlt, befiehlt er
auf die eine oder andere Weise dann auch den Inhalt. Eine Demokratie darf das
nicht zulassen.
Herr Gracia, haben Sie ein
Lebensmotto?
Das Leben
und die Menschen lieben. Dankbar sein. Sich selber als erlösungsbedürftigen
Menschen sehen, andere nicht verurteilen. Und guten Wein trinken.
Zur Person: Giuseppe Gracia (*1967), verheiratet, 2 Kinder; wohnhaft in St. Gallen. Studium der Theologie, heute Kommunikationsberater, Gastautor (NZZ, Weltwoche, Blick, Welt, Focus online) und Schriftsteller. Soeben erschienen: «Glorias Finale»; frühere Werke: «Der letzte Feind» (2020), «Der Abschied» (islamistischer Terror, Christentum, westliche Werte), «Santinis Frau», «Kippzustand», «Riss».
Dieser Artikel erschien zuerst im EDU Standpunkt.
Zum Buch:
Glorias Finale
Zum Thema:
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Datum: 14.10.2021
Autor: Thomas Feuz
Quelle: EDU Standpunkt