«Ich kann auch mit Wunden noch geliebt werden»
«An einem Juni-Tag im Laufe der 2010er-Jahre sass ich auf dem Bahnsteig in Highbury in Nordlondon», erinnert sich Hope Virgo. «Es war ein Samstag und ich war gerade mit meinem Vater und meiner älteren Schwester von einem dreitägigen Ausflug in Berlin zurückgekommen.»
Sie habe die ganze Zeit versucht so zu tun, als wäre nichts gewesen. «Es kostete meine ganze Energie, ein tapferes Gesicht aufzusetzen.»
Nun sass sie da, Tränen liefen über ihr Gesicht, sie starrte auf den Boden. Ein paar Leute blieben stehen und fragten, ob es mir gut ging. Mit einem harrschen «Es geht mir gut», verscheuchte sie die Passanten. Dann setzte sich ein Mann neben sie und begann, von seinem Glauben zu erzählen. «Es war interessant und hat mich abgelenkt.»
«Ich wollte glücklich sein und nichts fühlen»
«Auch nach diesem Gespräch wusste ich nicht wirklich, was ich wollte, ausser glücklich zu sein oder nichts zu fühlen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, mich so leer und allein zu fühlen. Ich hatte einen Job, den ich liebte, Familie, Freunde... aber es fehlte noch etwas; etwas stimmt nicht.»
In der folgenden Woche besuchte sie eine christliche Gemeinde. Sie sass da und sah, dass die Menschen ein Gefühl des Friedens ausstrahlten – davon konnte sie nur träumen.
Ihre Patentante empfahl ihr dann, den Alpha-Kurs zu durchlaufen; sie willigte ein. «Als ich aufwuchs, hatte ich immer an etwas geglaubt, ich war mir so sicher, dass es einen Gott gab, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich eine Beziehung zu ihm haben sollte.»
Der Missbrauch
«Meine ganze Beziehung zu Gott und zur Kirche war ein verwirrendes Durcheinander. Alles ging auf einen Missbrauch zurück, dem ich in der Kirche ausgesetzt war, als ich 13 Jahre alt war. Missbrauch, der mich so gebrochen und verängstigt zurückgelassen hat. Ich war ständig wütend auf die Kirche, wütend auf Gott.»
Sie wollte ihren eigenen Bewältigungsmechanismus finden, «der all diese Dinge, die ich fühlte, ausschalten würde. Der Schmerz und die Dysfunktion des Alltags. Anstatt darüber zu reden, habe ich meinen eigenen Weg gefunden: Magersucht. Anorexie war alles, was ich brauchte, um mich durch den Tag zu bringen.»
Wie ihr Glaube aufhörte
Im Alter von 17 Jahren litt sie unter einer Herzschwäche und gelber Haut, Hope Virgo wurde ich in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Sie verstand nicht, warum sie die Magersucht lassen musste, wenn dies doch scheinbar die Lösung war.
«Die Leute besuchten mich und beteten für mich. Die ganze Zeit betete ich, dass der Schmerz einfach verschwinden sollte, aber ich fühlte nichts von Gott. Es schien mir, als hätte er zugesehen, wie ich falle und zusammenbreche. Dass er zugesehen hatte, wie ich unter den Händen eines Täters litt. Dieser sogenannte Gott, wie konnte er behaupten, alle zu lieben? Da hatte der Glaube für mich aufgehört.»
Zerbrochen
Elf Jahre zuvor hatte sie die Kirche verlassen und geschworen, nie wieder zurückzukehren. «Ich wusste nicht, dass ich elf Jahre später an einem heissen Sommersonntagabend schwitzend am Eingang zum 'Holy Trinity Brompton' stehen würde. Ich sah durch die Tür und überlegte, was ich tun sollte. Schliesslich schlich ich hinein und versteckte mich in der hinteren Reihe der Kirche, damit niemand mit mir redete; damit ich mich distanziert halten konnte.»
Dann begann Alpha. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde, also war sie auf der Hut. «Ich verbrachte die ersten Wochen damit, auf mein altes Teenager-Ich zurückzugreifen. Ich wusste, dass mich etwas davon abhielt, mich auf Gott einzulassen, aber ich konnte nicht herausfinden, was. Vielleicht die Idee, die Kontrolle abzugeben? Vertrauen? Die Schuld, die ich fühlte? Die Tatsache, dass ich meine Vergangenheit nicht loslassen konnte?»
Seltsame Wochen
In den nächsten Wochen erlebte sie seltsame Dinge. «Es ist so viel passiert: das Wiedersehen mit alten Freunden und Leute, die mir sagten, was Gott mich wissen lassen wollte. Meistens traf das Gesagte wirklich einen Nerv. Um das Ganze abzurunden, entschied ich mich für das Alpha-Wochenende, was mich erschreckte. Ich war nervös und hatte Angst vor dem, was passieren würde. Würde ich etwas fühlen?»
Beim Treffen am Samstagnachmittag ging es darum, mit dem Heiligen Geist erfüllt zu werden. «Ich dachte an all die Zeiten bei den Soul Survivor und New Wine Festivals zurück, als dies passiert war. Ich hatte gesehen, wie Menschen geheilt wurden, oder erlebte, wie sie die Macht Gottes spürten, aber ich konnte nichts fühlen. Diesmal wollte ich, hatte aber zu viel Angst.»
Sie sass da und hasste alles, war angespannt und wütend auf alle. «Ich war wütend auf meinen Missbraucher; wütend auf Gott. Jemand hatte mir an diesem Morgen gesagt, dass Gott nicht möchte, dass wir unser Gepäck mit uns herumtragen, sondern dass er es für uns trägt. Wir können Dinge in der Vergangenheit belassen, aber aus irgendeinem Grund konnte ich das nicht. Stattdessen fühlte ich mich so gefangen. Wenn er mich liebte, würde er es mir sicher wegnehmen.»
«Gott weisst dich nicht zurück»
Sie sass da, beobachtete die Leute um sich herum und dann sagten etwa zwölf Personen, sie hätten Worte von Gott für die anderen Teilnehmer. Einer von ihnen sagte ihr: «Du magst in der Vergangenheit oft abgelehnt worden sein, aber Gott wird dich nicht zurückweisen. Er liebt dich.»
An diesem Punkt wurde ihr alles zu viel und sie ging. «Eine der Frauen holte mich ein und wir redeten und weinten zusammen. Sie verstand die Wunden, die Narben und meine Zerbrochenheit.»
Hope Virgo erinnert sich: «An diesem Abend wurde mir während des Gesprächs klar, dass ich nicht alle meine Fragen beantwortet haben musste, bevor ich die Entscheidung traf, was ich glaube. Ich habe verstanden, dass ich nebenbei lernen kann. In dieser Nacht legte ich mich ins Bett und betete zu Gott und bat ihn um Hilfe. Am nächsten Morgen fühlte ich mich in der Lage, während des Gottesdienstes mitzusingen.»
Vom Sterben abgehalten
Sie verstand, dass Gott in ihrer Krankheit und schon ihr ganzes Leben bei ihr gewesen war. «Damals hatte ich mich so weit von Gott entfernt gefühlt, aber rückblickend hatte er mich in diesen Nächten im Krankenhaus festgehalten. Er hat mich vor dem Sterben bewahrt und ich war willkommen bei ihm. Ich fragte mich, wie lange diese Gefühle anhalten würden, war aber erleichtert über das Gefühl des Friedens.»
Sie sei daran erinnert worden, «dass ich auch mit Wunden immer noch geliebt werden kann. Und das habe ich gebraucht. Ich war so darauf bedacht, vollkommen perfekt für Gott und mich selbst zu sein, dass ich den Wunsch nach einer Beziehung aus den Augen verloren hatte.» Zum ersten Mal nach elf Jahren sei sie in der Lage gewesen zu beten.
Am gleichen Wochenende erzählten andere Teilnehmer, was sie erlebt hatten. «Eine Frau sprach über ihre Bulimie und wie Gott sie geheilt hatte. Sie las Verse aus Jesaja und sagte, sie glaube, dass Gott andere befreien kann.» Hope sprach mit ihr und übergab ihr Leben anschliessend Jesus.
Frieden gefunden
Sie verliess dieses Wochenende mit dem Verständnis, dass sie nicht alles weiss und es viel zu lernen gibt. «Ich empfinde eine Mischung aus Angst und Aufregung über meine Zukunft mit Gott. Aber ich weiss jetzt, dass ich dafür bereit bin. Das sind nicht nur meine Eltern, die eine Beziehung zu Gott haben oder jemand, der mir sagt, was ich glauben soll oder dass ich mich schuldig fühle.»
Seit sie Jesus in ihrem Leben hat, spüre sie Frieden. «Die Wut, die ich so lange gefühlt habe, ist verschwunden. Gott war im Rückblick stets da. Zum Beispiel bei den drei Malen, als ich meinem Leben ein Ende setzen wollte und etwas mich aufgehalten hatte. Jemand hat jeweils perfekt eingegriffen, dass ich es nicht geschafft habe. Vielleicht war das Gott.»
Von Gott festgehalten
Heute sagt Hope Virgo: «Gott hielt mich an jenen Abenden fest, als ich im Krankenhaus lag; er war da, als mein Herz fast stehen blieb; er weinte. Gott war da und hielt meine Hand, als ich in Tränen ausbrach und er gab mir die Kraft, einen Fuss vor den anderen zu setzen, als ich das Gefühl hatte, die Welt würde einbrechen. Er war da, als ich mein erstes Medieninterview gab und als ich auf einer Bühne stand und meine Geschichte erzählte.»
Und weiter: «Er war die ganze Zeit da ... und hielt mich fest. Rückblickend war er bei allem dabei. Ich kann nicht hier sitzen und Ihnen sagen, dass ich meinen Glauben die ganze Zeit aufrechterhalten habe, da ich die meiste Zeit meines Lebens so weit davon entfernt war, aber ich kann Ihnen sagen, dass es die beste Entscheidung war, wieder darauf zurückzukommen. Ich weiss, dass es nicht immer einfach sein wird, aber ich weiss, mit Gott an meiner Seite wird es mir immer gut gehen.»
Zum Thema:
Gott persönlich kennenlernen
Heruntergemagert auf 44 Kilo: Sie fand einen Weg aus der Essstörung
Im dunklen Tal: «Die Angst wütet – aber wir brauchen sie nicht zu akzeptieren»
Tabea Germann: Auch dankbar für die dunklen Zeiten
Datum: 03.08.2021
Autor: Hope Virgo / Daniel Gerber
Quelle: Woman Alive / gekürzte Übersetzung: Jesus.ch