«Dorothée, du sollst leben!»
«45 Jahre lang war ich gefangen in Schmerz und Scham, Hass und Wut, Leid und Lügen. Ich bin streng religiös aufgewachsen. Meine Eltern glaubten aufgrund ihrer eigenen rigiden Erziehung, sie müssten auch meinen fünf Geschwistern und mir mit Gewalt den Willen brechen. Damit legten sie unbewusst den Nährboden für religiösen, emotionalen und sexuellen Missbrauch. Ich hatte praktisch keinen Kontakt nach Aussen und war viel allein. Nur nicht in meinem Zimmer. Dieses teilte ich mit meinem ältesten Bruder. Er verging sich über viele Jahre hinweg sexuell an mir.
Eingeschüchtert und identitätslos
Später war es ein Mann aus der Kirche, der mich als Teenager auf einer Parkbank missbrauchte. Allen Schmerz habe ich in mich hineingefressen, schämte mich abgrundtief, verstand Gott und die Welt nicht mehr – am allerwenigsten mich selbst. Zu reden wagte ich nicht, das hätte schlimme Folgen für alle gehabt.
Ich war 14, völlig eingeschüchtert, ohne Identität und unfähig, nein zu sagen oder Grenzen zu setzen. Zwei Jahre später zog ich von zu Hause aus, zu einer Pastorenfamilie. Dort setzten sich sexueller Missbrauch und Martyrium fort. Beinahe sechs Jahre lang missbrauchte mich der Pastor. Kaum zu glauben, dass ich unter diesen Umständen meine Ausbildung zur Pflegerin und später zur Arztsekretärin bestand. Um alles ertragen zu können, trank und rauchte ich in rauen Mengen. Ich litt unter Depressionen und hegte jahrelang Selbstmordgedanken. Mit einem Cocktail aus Alkohol und Tabletten versuchte ich schliesslich, meinem Leben ein Ende zu setzen. Der Pastor fand mich und liess mich Salzwasser trinken. Zum Arzt brachte er mich nicht aus Angst, aufzufliegen.
«Du bist zum Leben bestimmt, nicht zum Sterben»
Verzweifelt und ohne Hoffnung rief ich etwas später zu Gott: 'Wenn es dich wirklich gibt, dann zeig dich und hilf mir! Ich bin am Ende, rette mich, komm in mein Leben!' Umgehend hatte ich eine Vision. Ich sah mich gehalten und geborgen in den Armen von Gott. Überwältigende Liebe und Wärme durchströmten meinen Körper. Glasklar hörte ich Gottes Stimme: 'Dorothée, du bist zum Leben bestimmt, nicht zum Sterben. Ich liebe dich bedingungslos. Du sollst leben!'
Von da an begann meine Veränderung. Nach kurzem meldete sich die Stimme erneut, drang mich förmlich, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Der Gastredner aus den USA erzählte aus seinem sexuell einst verpfuschten Leben. Ich war tief bewegt. Plötzlich lief er auf mich zu und begann, für mich zu beten. Ich wusste nicht, wie mir geschah. All der Hass und die verletzten Gefühle stiegen in mir auf – und nach einem markerschütternden, langen Schrei war ich frei davon.
Den Peinigern vergeben
Ich wurde ein neuer, fröhlicher Mensch. Mein Leben lang hatte ich mich abgeschottet, nichts und niemandem über den Weg getraut. Plötzlich öffnete ich mich, lud andere Menschen zu mir ein und lachte viel. Mein Herz wurde weich, die dicke Schutzmauer stürzte ein und Gott befreite mich auch von meinen Süchten.
Bald machte er mir klar, dass ich meinen Peinigern vergeben sollte. Fast zeitgleich kam mein Bruder auf mich zu und bat mich seinerseits um Vergebung. Kurz darauf starb er an einer Überdosis Heroin. Ich bin so froh, dass wir zusammen reinen Tisch machen konnten und er nicht mit dieser Last sterben musste. Es war ein sehr schmerzvoller Prozess, aber auch dem Mann aus der Kirche und dem Pastor konnte ich vergeben. Ebenso meinen Eltern.
Gottes Auftrag
Ich spürte, dass Gott einen Auftrag für mich hat und begann, mich um Drogenabhängige zu kümmern. Ich erzählte ihnen von Gottes Liebe – und lernte dabei Peter kennen. Auch er hat eine strube Geschichte und erlebte, wie Gott ihn freimachte. 1993 heirateten wir und gingen nach Afrika. Dort nahmen wir uns der Prostituierten an, sahen viel Leid, Krankheit und Krieg.
Als unsere älteste Tochter schulpflichtig wurde, kehrten wir zurück in die Schweiz. Peter liess sich zum Pastor ausbilden und fand Arbeit in einer Kirchgemeinde. Nach wie vor schlug unser Herz für zerbrochene Menschen im Milieu. Doch diese zeigten kein Interesse, in die Kirche zu kommen. Wir mussten raus! Gott rief uns auf die Strasse, konkret an die Langstrasse ins Zürcher Rotlichtmilieu. Es war ein riesiger Schritt ins Ungewisse, finanziell, existenziell… Unsere beiden Töchter waren damals noch Teenies, doch wir bereuen den Entscheid bis heute nicht. Gott sorgt immer für uns.
Gründung «Heartwings»
2008 gründeten wir den Verein «Heartwings». Wir besuchen und ermutigen Frauen in Bordellen, Bars und bei ihnen zuhause. Ein Schlüssel zu ihren Herzen sind Kosmetikprodukte, kleine Geschenke und Kunstkarten. Ich habe vor einiger Zeit das Malen entdeckt. Gott redet durch diese Bilder ganz stark zu mir und zu den Frauen. Auch fliessen viele Tränen und wir liegen uns in den Armen, wenn die Frauen meine Geschichte hören.
Jahrzehntelang hatte ich geschwiegen – aus Angst und Scham. Erst als ich begonnen habe, den Mund aufzumachen und den Missbrauch beim Namen zu nennen, geschah Veränderung, zuerst bei mir, dann auch bei den Menschen, die wir begleiten. Wir erleben heute viele Wunder: zerbrochene Herzen werden heil, Frauen finden innerlich Freiheit – und immer wieder kommt es auch zum konkreten Ausstieg aus dem Rotlichtmilieu, was mich unbändig freut und motiviert.»
Dieser Bericht erschien in der Jesus.ch-Print Nr. 52. Hier können Sie das Jesus.ch-Print bestellen.
Zur Webseite:
Heartwings Verein
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Datum: 10.11.2019
Autor: Manuela Herzog
Quelle: Jesus.ch