Virologin und Theologin: «Das Virus wird bleiben»
PRO: Als wir voriges Jahr im Mai miteinander sprachen,
gab es die Corona-Pandemie schon ungefähr ein halbes Jahr. Sie haben
damals gesagt: Die Pandemie ist noch ganz am Anfang. Ihre Aussage hat
mich irritiert, weil ich dachte, es müsste langsam zu Ende gehen. Wann
kann man denn damit rechnen?
Mirjam Schilling: Das kommt
darauf an, wie man das «Ende» definiert. Das Virus wird nicht
verschwinden. Früher oder später wird es jeden infizieren. Mit dem
grossen Fortschritt beim Impfen in den westlichen Ländern stehen die
Chancen aber gut, dass wir innerhalb des nächsten Jahres unserem Alltag
wieder relativ normal nachgehen können. Für sehr viele Menschen in
anderen Ländern wird das noch länger anders aussehen. Deshalb bleibt
weiterhin Vorsicht geboten, das Reisen in Länder, wo noch wenige
Menschen geimpft sind, könnte schwierig bleiben.
Jetzt ist von der Delta-Variante die Rede. Wie gefährlich ist sie?
Von
der jetzigen Datenlage her kann man nicht sagen, dass sie tödlicher ist
oder zu schwereren Krankheitsverläufen führt. Sie verbreitet sich aber
schneller. Wir kennen jetzt vier Mutanten, davon haben zwei – die
brasilianische und die südafrikanische – einen Immunescape-Vorteil. Das
heisst, sie konnten sich besser gegen einen bestehenden Immunschutz
durchsetzen. Diese indische Delta-Variante hat dagegen einen
Fitness-Vorteil, wodurch sie ansteckender ist. Die Impfstoffe wirken
gegen sie immer noch gut, aber es ist besonders wichtig, vollständig
geimpft zu sein.
Das Ziel der Impfung ist im Prinzip, dem Immunsystem zu zeigen, wie der Erreger oder Teile davon aussehen. Dazu wird es auch ein bisschen provoziert. Aber das Immunsystem patrouilliert ohnehin und schaut, was im Körper so los ist. Und dann kann es in ganz seltenen Fällen zu einer Überreaktion kommen – wie im Fall der Herzmuskelentzündungen oder Thrombosen. Es ist im Detail auch noch nicht ganz klar, was genau das verursacht. Im Fall der Herzmuskelentzündungen haben sich aber die allermeisten Patienten wieder vollständig erholt. Auch viele Virusinfektionen können dazu führen. Unklar ist noch, wie hoch der Anteil der Herzmuskelentzündungen nach Covid-19 ist, und ob hier das Risiko nicht wieder höher liegt als nach der Impfung. Bei den Thrombosen hat man dann sehr schnell nachjustiert und den Impfstoff an Gruppen mit höherem Risiko, etwa Frauen über 55 Jahre, nicht mehr vergeben. Das zeigt, wie gut das Gesundheitssystem in Europa im Wesentlichen funktioniert.
Warum wurde das nicht in den Studien vor der Freigabe der Impfstoffe entdeckt?
Die
klinischen Studien sind so konzipiert, dass genug Teilnehmer dafür
rekrutiert werden müssen, um alles, was relativ häufig auftritt, sehen
zu können. Meist sind das zwischen 20'000 und 40'000 Probanden. Sonst
geht die klinische Studie überhaupt nicht durchs System. Die Thrombosen
und Herzmuskelentzündungen traten aber so selten auf – letztere in etwa
einem von 60'000 Fällen –, dass sie in diesen Studien nicht erkannt
wurden, sondern erst, als noch deutlich mehr Menschen geimpft wurden.
Was ist mit Langzeitfolgen?
Aus
rund einhundert Jahren Impfstoffforschung weiss man: Wenn Nebenwirkungen
auftreten, dann in der Regel innerhalb der ersten vier bis acht Wochen
nach der Impfung. Deshalb werden die Freiwilligen in klinischen Studien
auch bis zu acht Wochen lang sehr engmaschig beobachtet. Wenn wir von
Langzeit-Nebenwirkungen sprechen, bedeutet das nicht, dass sie nach zehn
Jahren plötzlich auftauchen, sondern das sind Folgen, die uns lange
erhalten bleiben können.
Auch wenn es nur wenige Fälle sind: Schwerwiegende Nebenwirkungen zerstören das Vertrauen ins Impfen …
Ich
verstehe, dass sich Menschen jetzt mehr Gedanken machen, ob sie sich
impfen lassen oder nicht. Das ist immer eine berechtigte Frage. Keine
Impfung und auch kein Medikament ist völlig ohne Nebenwirkungen. Das ist
auch so bei der Aspirin-Tablette. Letztlich ist es eine Risikoabwägung.
Dabei stellen aber manche den falschen Vergleich an: Oft wird das
Risiko abgewogen zwischen «Ich lass mich impfen und habe möglicherweise
Nebenwirkungen» und «Ich lass mich nicht impfen und habe kein Risiko».
Eine realistische Risikoabwägung müsste aber die Wahrscheinlichkeit einer Virusinfektion und ihrer möglichen Folgen einer Impfung gegenüberstellen. Bei der Infektion ist das Risiko, zu sterben, schwere Krankheitsverläufe oder auch Long-Covid-Folgen mit Organschädigungen zu haben, um ein Vielfaches höher. Das persönliche Risiko muss man im Alltag ja ständig diskutieren: Setze ich den Helm beim Fahrradfahren auf, schnalle ich mich im Auto ran? Niemand wird bezweifeln, dass das einen wichtigen Schutz bietet. Trotzdem gibt es sehr seltene Unfallszenarien, in denen ich tödlich verunglücken kann, weil ich mich am Gurt ungünstig stranguliere.
Als
Kriterium für politische Massnahmen gegen die Pandemie wird die
Inzidenz, also die Zahl der Infizierten pro 100'000 Einwohner
herangezogen. Für wie geeignet halten Sie diesen Wert?
Solange,
bis alle die Chance hatten, sich voll impfen zu lassen, ist die
Inzidenz ein wichtiger Kennwert. Er zeigt uns an, wie viel Virus gerade
in unserer Gesellschaft unterwegs ist und welchem Risiko ich mich
aussetze. Es ist aber völlig klar, dass langfristig der Inzidenzwert
nicht mehr der Hauptausschlaggeber sein kann, weil die Immunisierung
vorankommt. Vermutlich muss man zukünftig eher die Rate der
Hospitalisierung im Blick behalten.
Wird mit der
Kommunikation der Inzidenz nicht unnötig Angst gemacht? Selbst wenn 200
von 100'000 Menschen infiziert sind, haben immer noch sehr viele
Menschen das Virus nicht.
Klar, 200 ist erstmal nicht
viel, kann aber schnell viel werden. Wenn man überlegt, dass zum
Beispiel jeder Infizierte zehn Menschen anstecken könnte, hat man
schnell 200 mal zehn, die dann etwa wieder zehn infizieren können – und
dann kann so etwas sehr schnell ausser Kontrolle geraten, wenn man es zu
spät stoppt. Deshalb finde ich es wichtig, Inzidenzen zu kommunizieren,
verstehe aber auch, dass man dann vielleicht das Gefühl hat, es werde
unnötig Angst gemacht. Aber man muss Entscheidungen für Schutzmassnahmen
treffen, bevor etwas passiert ist. Nach der Flutkatastrophe im Westen
Deutschlands wurde diskutiert, ob die Folgen hätten verhindert werden
können. Beim Virus gibt es die gegenteilige Kritik: Waren diese
Vorsichtsmassnahmen nicht alle unnötig? Vielleicht liegt das daran, dass
ein Virus abstrakter ist als eine Flut.
Lockdown
und Kontaktbeschränkungen sollten die Ausbreitung des Virus verhindern
und Gesundheit und Leben schützen. Aber die Folgen davon sind teilweise
auch verheerend, etwa für die Bildung, für Kultur, Gastronomie oder die
Psyche. Wie beurteilen Sie das ethisch – war es das wert?
Schwierig.
Wir wissen nicht, wie es gewesen wäre, wenn wir keine Lockdowns gehabt
hätten – wahrscheinlich hätten wir deutlich mehr schwere Krankheits- und
Todesfälle. Die tatsächlichen Fälle und die Traumata, die das auslöst,
unterschätzen wir in der öffentlichen Diskussion oft, weil wir sie nicht
erlebt haben. Eine Pandemie kostet uns alle viel und leider kostet sie
oft die mehr, die ohnehin schon benachteiligt sind. Deshalb würde ich
sagen: Für den Durchschnitt waren die Massnahmen wahrscheinlich eine sehr
gute Entscheidung. Dass es für nicht jeden eine gute Entscheidung war,
ist aber leider auch klar.
Auf der einen Seite ist mir eine sehr grosse Skepsis begegnet, die mir manchmal wehtut. Ich bin sehr überzeugt Christ und habe eine lebendige Gottesbeziehung. Mir das absprechen zu lassen, weil jemand sagt: Sie ist Wissenschaftlerin und das passt nicht mit dem Glauben zusammen – das fand ich persönlich schwierig. Und ich verstehe auch nicht, warum manche Christen sich schwertun, zu glauben, dass ein Naturwissenschaftler fachlich gesehen weiss, was er tut. Das zweifeln sie bei Ingenieuren ja auch nicht an. Auf der anderen Seite war es plötzlich viel einfacher, Menschen für meine biologische Forschung zu interessieren. Ich hatte spannende Gespräche mit Leuten, die zum ersten Mal danach gefragt haben, wie mein Berufsalltag eigentlich aussieht, wie meine Forschung funktioniert, was wir über Viren wissen. Die Diskussion hatte ich vorher nicht.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie eine Pandemie als das sehen, was sie ist, nämlich ein biologisches Problem…
Ich
wehre mich damit gegen eine geistliche Überinterpretation, sie als
zeitliches Zeichen oder als Werk des Antichristen zu deuten. Es ist
jetzt erst einmal einfach nur ein biologisches Problem und eins, das wir
auch gut klassifizieren und charakterisieren können – und wogegen wir
sogar schon Impfstoffe entwickelt haben. Selbstverständlich warten wir
auf das Ende der Welt und darauf, dass Jesus wiederkommt. Die Bibel
kündigt auch an, dass das Ende der Welt schwierig wird mit Krankheit und
Chaos und Krieg, aber den Zeitpunkt kennen wir nicht. Rein rational
betrachtet ist es eine Pandemie unter vielen. Die Pest im Mittelalter
war deutlich schlimmer. Die Weltkriege waren mit Sicherheit auch
schlimmer.
Steckt trotzdem eine Botschaft von Gott in der Pandemie?
Alles
auf dem Planeten sagt uns auch etwas über Gott. Die Vielfalt zeigt uns,
was er über Kreativität denkt. Die Art und Weise, wie Menschen und
Viren und andere Ökosysteme zusammenhängen, zeigt, dass wir Teil dieser
Schöpfung sind und nicht darüber stehen. Und eine Pandemie zeigt, wie
wenig wir uns selber unter Kontrolle haben. Sie zeigt uns, wie fragil
unsere Welt ist und dass wir Erlösung brauchen.
Dr. Mirjam Schilling, Jahrgang 1986, forscht an der Universität Oxford daran, wie Viren in den ersten Minuten bis Stunden nach einer Infektion vom Immunsystem erkannt werden und wie das Immunsystem mit dem Virus interagiert. Zudem arbeitet sie an einer Dissertation in Theologie und untersucht deren Schnittstellen zur Virologie. Dabei spielen Fragen nach Gut und Böse in der Welt eine Rolle, nach dem Leid oder die These des Atheisten Richard Dawkins, Religion sei ein Virus des Gehirns.
Dieses Interview erschien in der Ausgabe 4/2021 des Christlichen Medienmagazins PRO. Sie können PRO kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 0 64 41/5 66 77 00.
Zum Thema:
Einen Weg finden: Verändert die Corona-Krise unser Leben nachhaltig?
Freiheit und Nächstenliebe: Christliche Verantwortung angesichts der Pandemie
Gemeinsam fürs Wesentliche: Livenet-Talk: Treibt uns Corona auseinander?
Datum: 19.08.2021
Autor: Jonathan Steinert
Quelle: PRO Medienmagazin