Kliniken statt Kathedralen
«Hauptsache, man ist gesund!» Diese Aussage gehört schon fast zum Standard-Repertoire von Glückwünschen bei Geburtstagsfeiern ab 60. Man ist sich heute einig, dass Gesundheit zwar nicht alles, dass aber ohne Gesundheit alles nichts ist.
Der Tanz um die Gesundheit
Vor allem der Arzt und Theologe Manfred Lütz hat in den letzten Jahren darauf hingewiesen, dass sich das Gesundheitswesen immer mehr zu einer Art Religionsersatz entwickelt. Die Menschen suchen heute im Gesundheitswesen nicht nur die Heilung von Krankheiten, sondern einen heilvollen Zustand. Es genügt uns nicht, wenn wir einigermassen gesund sind, wir wollen fit sein – eine Steigerungsform von Gesundheit. Auch Fitness ist nicht das letzte Ziel, wir wollen zugleich ganzheitliche Wellness erleben – ein Stück Paradies auf Erden! Darauf haben wir doch Anrecht, wenn uns das Gesundheitswesen so viel kostet! Manfred Lütz formuliert scharfzüngig: «Wenn heute überhaupt etwas auf dem Altar steht, angebetet und mit allerhand schweisstreibenden Sühneopfern bedacht, so ist es die Gesundheit. Unsere Vorfahren bauten Kathedralen, wir bauen Kliniken.
Unsere Vorfahren machten Kniebeugen, wir machen Rumpfbeugen. Unsere Vorfahren retteten ihre Seele, wir unsere Figur. Im Jahr 2000 nach Christi Geburt hat in Deutschland erstmals die Zahl der Fitnessstudiomitglieder die Zahl der Besucher des katholischen Sonntagsgottesdienstes übertroffen.»
Dieser Entwicklung hat nicht zuletzt die offizielle Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahr 1946 Vorschub geleistet. Gesundheit ist laut WHO ein Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Beschwerden und Krankheit. An diesem ideologisch überhöhten Massstab von Gesundheit gemessen sind die meisten Menschen meistens krank.
Gesunder Umgang mit Krankheit
Nun ist nicht zu bestreiten, dass Gesundheit ein hohes Gut ist, für das wir dankbar sein können und zu dem wir auch Sorge tragen sollen. Auch Fitness und Wellness können – in Grenzen – unsere Lebensqualität durchaus steigern. Sie sind aber nicht das höchste aller Güter. Im Gegenteil: Wer so tut, als wäre Gesundheit die Hauptsache im Leben, spricht damit all jenen Menschen, die an Krankheiten oder Behinderungen leiden, ein Stück Lebensqualität ab. Das ist unmenschlich – und zugleich unreif. Denn normales menschliches Leben ist immer etwas sehr Fragiles, Verletzbares. Der Umgang mit Grenzen, mit Krankheit und Behinderungen gehört zu jedem guten, sinnvollen Leben. Es führt darum weiter, wenn wir von einem Verständnis von Gesundheit ausgehen, das diese als Kraft und Fähigkeit versteht, konstruktiv mit Krankheit und Behinderung zu leben und sogar den Tod in das Leben zu integrieren.
Wo liegt das Mass?
Das wirkliche menschliche Mass ist nicht das vollkommene Wohlbefinden, sondern das Fragile, Verletzbare, Fragmentarische. Unsere Bestimmung ist nicht ein Leben in einem irdischen Paradies, sondern die mutige und kraftvolle Auseinandersetzung mit Herausforderungen wie Krankheit und Behinderung. Daran kann man wachsen, reifen und die Tiefendimensionen echten Menschseins entdecken.
Das heisst nicht, dass wir Leiden und Krankheit verherrlichen sollen. Aber es hat etwas Entlastendes, wenn wir uns klar machen, dass die Würde, die Sinnhaftigkeit und der Lebenswert des menschlichen Lebens nicht von der Gesundheit abhängig sind. Manchmal sind es gerade Kranke, die uns lehren, was es heisst, sinnerfüllt zu leben. Manche Einsichten und Erfahrungen bleiben uns verschlossen, wenn sie uns nicht durch eine Zeit der Krankheit erschlossen werden. Darum gehört die Kunst, konstruktiv mit Krankheit umzugehen, wesentlich zu einem gesunden Leben.
Dr. theol. Heinz Rüegger MAE ist Theologe, Ethiker und Gerontologe. Er ist Mitarbeiter am Institut Neumünster, einer Institution der Stiftung Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule, und Seelsorger in einem Pflegeheim.
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Datum: 22.07.2011
Autor: Heinz Rüegger
Quelle: Magazin INSIST 2/11