«Hochsensibel und trotzdem OK»
Dr. Debora Sommer (Jg. 1974) ist selbst eine Hochsensible Person (HSP), introvertiert und Autorin von bisher neun Büchern. Nach einem früheren Buch über Introversion hat sie sich – mit der ihr eigenen wissenschaftlichen Gründlichkeit – an 300 Seiten zum Thema «Hochsensibilität» gewagt. Über ihr Buch «Mit allen Sinnen auf Empfang – Hochsensibilität als Gottesgeschenk und Auftrag» redet sie im Livenet-Gespräch mit Debora Alder-Gasser.
«Wird so oft negativ dargestellt!»
Noch vor zehn Jahren war Hochsensibilität (HS) im deutschen Sprachraum kaum jemandem ein Begriff. «Es geht um die erhöhte Fähigkeit, äussere und innere Reize zu empfinden und zu verarbeiten», erklärt Debora Sommer sich selbst. «Das Nervensystem von Hochsensiblen ist anders beschaffen. Hochsensible erleben eine genetisch bestimmte 'andere Wahrnehmung' von Reizen, eine besonders feine Wahrnehmung von Sinneseindrücken und Empfindungen (auch von Mitmenschen), die oft zu einer Überforderung oder Überreizung führt. Wo bei nicht-Hochsensiblen viele Reize automatisch weggefiltert werden, füllt sich bei Hochsensiblen wie ein Becher schnell mit Reizen, mit denen er / sie lernen muss, umzugehen.»
Sommer weiter: «HS wird immer noch negativ dargestellt, auch in christlichen Büchern, so an der Grenze zum Krankhaften. Ich wollte einen Gegenpol setzen und es als Segen verstehen.» Und sie redet biographisch: «Ich wusste schon lange, dass ich hochsensibel bin, wollte mich aber nicht damit auseinandersetzen. Ich hatte viele Komplexe, war oft mit Gedanken überfordert, habe sie verdrängt und weggeschoben.»
Sie musste lernen, den Gedanken «das betrifft ja nur mich» als Lüge zu durchschauen: «Es betraf auch unsere Ehe, meine Familie» – Sommer hat selbst zwei hochsensible Kinder. Sie musste lernen, sich selbst anzunehmen: «Stell dich dem Thema und lerne, wie viel Wunderbares in dir steckt. Ich muss verstehen: Es ist gut, wie ich bin – dann kann ich auch weiterschenken. Sonst bin ich immer in der Opferhaltung und immer auf mich fixiert.» Jungen Hochsensiblen empfiehlt sie denn auch: «Lest Sachen, geht ins Gespräch, sucht einen Mentor.»
«Tu doch nicht so blöd»
Nicht-Hochsensible nehmen HSP oft nicht ernst, weil ihre Nervenverarbeitung anders, «gedämpfter» ist. Daran leiden viele HSP, dass sie nicht ernst genommen werden. Ein Beispiel: Viele HSP haben Intuitionen, nehmen Unausgesprochenes wahr und «spüren» zum Beispiel: «Bei dieser Person muss man vorsichtig sein.». Sie erzählt, wie ihr Mann eine solche Warnung von ihr nicht ernst nahm und mit einer Person in nähere Beziehung kam, wo Debora rotes Licht sah. Durch diese Person wurde er dann recht verletzt und erkannte nachträglich, dass er die Intuition seiner Frau hätte ernstnehmen sollen. «Es tat uns beiden gut, daraus zu lernen», bekennt sie heute.
In Ehe und Familie
Debora Sommer musste mit ihrem Mann zusammen lernen, ihre HS einerseits ernst zu nehmen; dann aber auch ihren Mann als den zu erleben, «der mich wieder oben runterholt, wenn mich alles einfach überflutet». Ein reifer Umgang von HS und Nicht-HS in der Ehe könne zu einer sehr schönen Ergänzung werden, wenn die Verschiedenheit sonst zu einer grossen Belastung werden kann. «Am Anfang unserer Beziehung war es sehr schwierig, und ich spürte ständig den Druck, dass ich mich verändern müsste. Es war eine Weichenstellung in unserer Ehe, als mein Mann merkte: 'Das ist meine Lebensrealität. Ich stelle mich nicht einfach an.» Als hochsensible Mutter nimmt Debora etwa viel eher wahr als ihr Mann, wenn etwa ein Kind traurig ist und kann darum eher das Gespräch suchen.
Es ist nicht alles mein Auftrag
Gleichzeitig musste sie lernen, sich zu beschränken: «Ich sage mir und anderen HS immer wieder: Es ist nicht alles mein Auftrag, was ich wahrnehme. Etwa in einem Gottesdienst spüre ich so viel, auch an Not und Spannungen; früher dachte ich immer grad: Das ist mein Auftrag, da muss ich helfen. Heute habe ich gelernt, zu filtern und nicht alles, was ich wahrnehme, grad als Auftrag aufzufassen. Ich habe gelernt, zu beten: 'Jesus, zeige mir, wo meine Wahrnehmung ein Auftrag von dir ist.' Ich will ja auch nicht Grenzen überschreiten und dauernd Menschen auf ihre Probleme ansprechen, nur weil ich etwas spüre.»
Sind wir nicht alle überfordert?
Moderatorin Debora Alder-Gasser stellt die kritische Frage, ob die stark zugenommene Diskussion um HS nicht ein Hype-Thema ist, weil wir in einer komplexen Welt leben. Debora Sommer stimmt zu: «Vieles, was über HS geschrieben wird, macht die Diskussion nur schwieriger. Vieles ist oberflächlich, vermischt viele Themen, ist wissenschaftlich nicht gut begründet und macht das Chaos ums Thema nur grösser.»
Es gehe also nicht darum, dass «wir heute ja alle überfordert sind». Debora Sommer versucht in ihrem Buch, das Thema einzugrenzen, verständlich zu beschreiben und zu begründen. Dabei hält sie fest, dass es keine «scharfe Grenze» zur HS gibt – sie sieht eher ein «Sensibilitäts-Spektrum», auf dem Menschen ihre Gott-gegebene Sensibilität, die alle haben, halt stärker oder weniger stark erleben.
Das US-Forscherehepaar Elaine und Arthur Aron hat 1996 die wissenschaftliche Grundlage für die «Diagnose HS» gelegt, die Sommer so zusammenfasst: «Für die Diagnose HS müssen vier Kategorien in einer Person zusammenkommen: eine starke Verarbeitungstiefe (vor und nach einem Ereignis), eine stärkere körperliche und nervliche Reizüberflutung, stärkere Emotionen (positiv und negativ) und schliesslich ein starkes Wahrnehmen von Feinheiten. Erst wenn diese vier Elemente zusammenkommen, kann man von einer hochsensiblen Person reden.»
Die Sonnenseite der Gabe
Beim Schreiben ist Debora Sommer «wichtig geworden, dass HSP aus der Opferhaltung herauskommen» und auf eine erlöste Art und Weise die Schönheit und den Wert ihrer Hochsensibilität schätzen lernen. «Allzu oft leidet man einfach an den schwierigen Seiten von HS, an Ängsten und Schmerzen und erkennt zu wenig, dass es auch eine Ausprägung gibt, die auf die Sonnenseite der Gabe zielt.» Sie ist überzeugt: «Das Vulnerable ist nicht einfach eine Festlegung, sondern – gerade als Christen – können hochsensible Personen in einen Frieden und eine Freiheit kommen, durch die sie für andere ein Geschenk und ein Segen sein können.»
Gott und die Sinne
Das andere, was Debora Sommer «total faszinierte» beim Schreiben ihres Buches, war, «wie Gott in der Bibel die fünf Sinne und die Sinnesempfindungen enorm wichtig sind – der Geruch der Opfer, die Berührungen durch seine Hand, das 'Auge', das 'Herz' in ihrer doppelten Bedeutung – und schliesslich Jesus, durch den Gott für uns Menschen berührbar wird». Sie hat gelernt: «Gott möchte uns auch über unsere fünf Sinne ansprechen. Nicht nur Hochsensible, sondern wir alle sollen unsere Empfänglichkeit für Gott stärken, damit er sich uns noch viel stärker mitteilen kann.»
Darum gilt die Erfahrung von Debora Sommer Hochsensiblen, aber auch dem Rest: «So bin ich, Gott hat sich etwas überlegt, wie er mich geschaffen hat, ich bin nicht unbrauchbar, sondern er kann mich für etwas einsetzen. Ich würde es von meinem Naturell nicht suchen, auf einer Bühne zu stehen; aber ich muss mich nicht festlegen lassen, sondern wenn etwas ein Auftrag ist, dann geht es auch.»
Das Buch «Mit allen Sinnen auf Empfang – Hochsensibilität als Gottesgeschenk und Auftrag» ist im lokalen Buchhandel, bei Livenet.ch oder direkt bei der Autorin über www.deborasommer.com erhältlich (in diesem Fall gibt es, wenn gewünscht, eine Widmung dazu).
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Datum: 04.08.2021
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet