«Wir sind für mehr als das Irdische geschaffen»
Debora Sommer, was muss man über Ihr neues Buch «Im Herzen ist Raum für
mehr» wissen?
Debora Sommer: Mein neustes Buch beschäftigt sich
mit einem der stärksten menschlichen Gefühle überhaupt: der Sehnsucht. Es ist
mein mittlerweile achtes Buch. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Sehnsucht
hat mir alles abverlangt, mich zutiefst bewegt und mir neue Horizonte eröffnet.
Ich bete dafür, dass mein Buch viele Menschen dazu inspiriert, einen mutigen
Blick in ihr Herz zu wagen und sich auf ihre ganz persönliche Reise der
Sehnsucht zu begeben.
Warum sehnen wir Menschen uns immer nach mehr?
Weil
wir intuitiv spüren, dass wir für mehr als das irdische Leben geschaffen sind.
Auch Nichtchristen tragen diese Sehnsucht nach Transzendenz, nach etwas
Übersinnlichem, in sich. C. S. Lewis schrieb in seinem Buch «Mere Christianity»: «Wenn
wir uns mit einer Sehnsucht wiederfinden, die durch nichts in dieser Welt
gestillt werden kann, ist die wahrscheinlichste Erklärung, dass wir für eine
andere Welt gemacht wurden.» Letztlich münden alle menschlichen Sehnsüchte in
die Ursehnsucht nach dem lebendigen Gott. Doch solange wir dies nicht erkennen,
versuchen wir unsere Sehnsucht – diesen Hunger und Durst der Seele – auf jede
erdenkliche Weise zu stillen. Letztlich sind unsere Sehnsüchte Ausdruck einer
intensiven Suche nach dem Sinn des Lebens. Nach Glück und Erfüllung.
Wie kann man darauf reagieren?
Im
Grunde genommen ist unser ganzes Leben eine Reaktion auf unsere Sehnsüchte.
Allerdings meist unbewusst. Sehnsucht hinterlässt Spuren in unserem
Browser-Verlauf, in unserer Freizeitgestaltung und unserem Kaufverhalten.
Manche empfinden Sehnsucht als inspirierend, andere treibt der Schmerz der
Sehnsucht in die Verzweiflung. Hier ist der Weg zur Sucht nicht weit. Denn
Sucht ist in der Regel nichts anderes als verdrängte Sehnsucht. Die grosse
Herausforderung liegt im Umgang mit unseren Sehnsüchten. In meinem Buch
unterscheide ich drei Arten von Sehnsucht: 1. Alltägliche Sehnsüchte, 2.
Grundsehnsüchte und 3. die Ursehnsucht. Am Allerwichtigsten scheint mir, dass
wir bereit sind, unseren Sehnsüchten Raum zu schaffen. Sie als Signale der
Seele ernst zu nehmen. Sie nicht länger zu verdrängen, zu unterdrücken oder
schönzureden. Wenn wir dies zulassen, können unsere tiefsten Sehnsüchte zum Ort
einer heiligen und intimen Verbindung mit dem lebendigen Gott werden.
Wie hilft der christliche Glaube bei diesem Thema?
Bei
der Arbeit an diesem Buch hat mich wie nie zuvor berührt, dass Gott selbst die
Quelle aller Sehnsucht ist. Er sehnt sich nach jedem Einzelnen, als ob er oder
sie der einzige Mensch auf Erden wäre. Sehnsucht umfasst in der Bibel den
Spannungsbogen von gegenwärtiger Zeit und Ewigkeit, Vergänglichem und
Unvergänglichem, Sichtbarem und Unsichtbarem. Die biblische
Sehnsuchtsperspektive ist zugleich eine Ewigkeitsperspektive. Laut Prediger, Kapitel
3, Vers 11 hat Gott selbst die Ewigkeit ins menschliche Herz gelegt. «Ewigkeit im
Herzen» ermöglicht es dem Menschen, dass er schon zu Lebzeiten die Möglichkeit
hat, sein Leben aus einer Ewigkeitsperspektive zu betrachten und entsprechende
Schlüsse daraus zu ziehen. Die Ewigkeitsperspektive hilft mir dabei,
wesentliche von unwesentlichen Sehnsüchten zu unterscheiden. Angesichts meiner
Endlichkeit erscheinen Sehnsüchte, die ausschliesslich mein eigenes Wohlergehen
im Blick haben bemerkenswert blass. Umgekehrt können Sehnsüchte, die mein Herz
wachhalten, zu einer richtungsweisenden Lebenskraft werden.
Wie kann Gott dieses ständige Sehnen stillen?
Es
ist Gottes tiefste Sehnsucht, unsere Ursehnsucht zu stillen. Doch dies
geschieht nicht einfach automatisch und auf Dauer. Ob und wie meine Ursehnsucht
gestillt wird, hängt davon ab, in welchem Ausmass ich Gottes Wirken an mir
zulasse. Zudem geschieht Erfüllung bloss bruchstückhaft. In vollkommener Weise
wird meine Ursehnsucht erst im Himmel gestillt. Was unsere alltäglichen Sehnsüchte
und Grundsehnsüchte betrifft, sind wir herausgefordert, die Spannungsfelder
unerfüllter Sehnsüchte auszuhalten. Denn viele Sehnsüchte bleiben auch im Leben
eines Christen unerfüllt. Sei es die Sehnsucht nach einer Familie – angesichts
von Kinderlosigkeit; die Sehnsucht nach Heilung – angesichts einer unheilbaren
Erkrankung; die Sehnsucht nach Perspektive – nach dem Tod des Ehepartners oder
die Sehnsucht nach einem Wunder – angesichts einer finanziellen Notsituation.
Welche Sehnsüchte werden in der gegenwärtigen Corona-Krise wach?
Unter
der Überschrift «Sehnsucht in Corona-Zeiten» veröffentlichte die «Bild»-Zeitung
am 24. März 2020 mehrere Bilder, die aktuelle Sehnsüchte zum Ausdruck bringen: zum Beispiel die Sehnsucht nach Nähe, nach Köperkontakt, dem ausgelassenen
Zusammensein mit Freunden, nach Sehnsuchtsorten und so weiter. Die Bilder
zeigen Alltägliches. Dinge, die noch vor wenigen Wochen als selbstverständlich
galten. Die gegenwärtige Krise konfrontiert uns schonungslos mit unseren
Begrenzungen, unserer Vergänglichkeit und Hilflosigkeit. Sie führt uns vor
Augen (was an anderen Orten der Welt längst alltägliche Realität ist), wie
fragil und brüchig vieles von dem ist, was wir für beständig hielten. Die
Sehnsucht nach Gesundheit oder materieller Sicherheit sind plötzlich
existenzieller Art. Viele Menschen denken in dieser Krise neu über den Sinn
ihres Lebens nach. Sie hinterfragen ihre bisherige Lebensgestaltung und
überlegen, was in ihrem Leben wirklich wichtig ist. Hier erkenne ich – mitten
in all dem Schrecklichen – auch eine Chance.
Zur Person:
Dr. Debora Sommer (45) ist Dozentin am Theologischen Seminar St.
Chrischona, Autorin und Referentin.
Zum Buch:
«Im Herzen ist Raum für mehr»
Zum Thema:
Einfach Jesus: Gestillte Sehnsucht
Debora Sommer: Introvertiert-Sein ist ein Geschenk
Fachtagung zu Heilung: Wenn ein Güterzug die Seele überfährt
Datum: 07.05.2020
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet