Wie viel Gefühl braucht mein Glaube?
Heute ist mal wieder so ein Tag, an dem ich meinem Schweinehund schon früh am Morgen den Kampf angesagt habe. Stille Zeit statt warmem Bett! Bibel lesen statt Schäfchen zählen! Ich sitze verschlafen, aber mit einem leisen Triumphgefühl im Wohnzimmer und schlage meine Bibel und ein Andachtsbuch auf, das mir sagt, welche Bibelstelle heute dran ist. Ich lese den Text und hoffe auf eine bahnbrechende Erkenntnis. Einen echten «Aha»-Effekt, eine Überraschung und vor allem eine fühlbare Berührung vom Heiligen Geist. Wenn ich schon extra den Kampf gegen den Schweinehund und die Bettdecke aufgenommen habe, dann soll es sich gelohnt haben, und ich möchte Gott in seinem Wort begegnen. Er soll mein Herz berühren und mich fühlbar segnen.
Nach wenigen Minuten bin ich fertig mit dem Text und denke: «Aha.» Nicht «Ahaaaaaa!!!», sondern schlicht «Aha». Ich finde in meinem Kopf weit und breit keine bahnbrechende Erkenntnis. Ich spüre in mein Herz hinein und fühle keine göttliche Berührung und keine emotionale Regung. Ich spüre … nichts. Gar nichts. Der Text berührt mich emotional nicht mehr als ein Artikel über Hustentee in der Apothekenzeitschrift. Was stimmt nicht mit mir? Was mache ich falsch? Ist denn meine Beziehung zu Gott so kaputt, dass sein Wort mich überhaupt nicht erreicht? Andere in der Gemeinde erzählen so viel von intensiven Gebetszeiten und berührenden Gottesbegegnungen. Aber was ist mein Problem? Wo ist der Fehler?
Ist Gefühl gleich Nähe?
Du fühlst dich gerade ertappt oder – sagen wir es anders – verstanden? Prima, dann sind wir schon zu zweit! Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe – Gott sei Dank – schon oft erlebt, dass ein Bibeltext mich tatsächlich emotional berührt hat und ich es wie eine Art zärtliches Anstupsen von Gott empfunden habe. Aber ich kenne eben auch dieses abgeklärte «Aha», wenn ein Text, aber auch eine Predigt oder eine Lobpreiszeit mich völlig kalt lässt und mich höchstens auf der sachlichen Verstandesebene irgendwie anspricht. Und ich frage mich: Wie viel Gefühl braucht der Glaube?
Ich habe in meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin schon sehr oft Menschen sagen hören: «Ich glaube, dass Gott mich liebt. Aber ich fühle es nicht.» Und das hat sie frustriert, traurig gemacht und nicht selten sogar an ihrer Gottesbeziehung zweifeln lassen. Aber ist unser Gefühl denn so entscheidend? Müssen wir die Nähe Gottes fühlen, um sicher zu sein, dass er uns nah ist?
Babys vor dem 8. Lebensmonat schreien oft, wenn Mama oder Papa aus dem Blickfeld verschwindet. Denn was sie nicht mehr sehen, existiert für sie nicht mehr, und damit fühlen sie sich einsam, verlassen und bedroht. Was ihnen fehlt, ist die sogenannte «Objektpermanenz», also das Wissen, dass Dinge (oder Menschen) weiter existieren, auch wenn man sie nicht mehr sehen kann. In einer gesunden Entwicklung bildet sich diese Objektpermanenz zwischen dem 8.und 12. Lebensmonat vollständig aus. Ich frage mich manchmal, ob uns in unserer geistlichen Entwicklung vielleicht auch die Objektpermanenz in Bezug auf Gott fehlt: «Ich fühle ihn nicht mehr, also hat er sich aus meinem Leben entfernt. Oder gab es ihn vielleicht noch nie und alles war nur ein grosses Märchen?» Unser Gefühl kann an dieser Stelle sehr trügerisch sein, und ihm zu vertrauen, könnte uns in die Sackgasse führen.
Selbstwert kontra Selbstwertgefühl
In Psychotherapiegesprächen versuche ich manchmal, Patienten den Unterschied zwischen Selbstwert und Selbstwertgefühl deutlich zu machen. Vor allem wenn sie darüber klagen, sie hätten «keinen Selbstwert». Ich greife dann auf eine altbekannte Intervention zurück und hole einen 50-Euro-Schein aus meiner Tasche. Ich frage die Patienten, wie viel dieser Schein wert ist, und sie schauen mich sehr skeptisch an und antworten natürlich: «50 Euro.» Dann falte ich den Schein einige Male zusammen und frage wieder. Später knülle ich ihn zusammen, werfe ihn auf den Boden, trete einige Male feste drauf und frage wieder. Zum guten Schluss falte ich den Schein wieder auseinander, reisse ihn ein Stück ein und frage wieder nach seinem Wert. Auf jede einzelne meiner Fragen bekomme ich – zwar immer zögerlicher, aber doch sicher – die Antwort: «50 Euro.» Und dann frage ich die Patienten, wie wertvoll dieser Schein sich wohl fühlen würde, wenn er es könnte. Zusammengefaltet, auf den Boden geschmissen, zertreten, eingerissen... Er würde diese Frage wahrscheinlich als höchst zynisch empfinden und antworten, dass er sich so wertlos fühlt, wie man sich nur irgendwie fühlen kann. Tatsächlich aber ist er noch genauso viel wert wie vorher, als er noch schön und heil war. Das ist der Unterschied zwischen Selbstwert und Selbstwertgefühl. Oder auch zwischen Wahrheit und Gefühl!
Was hat das nun mit unserem Glauben zu tun?
Voller Schuld und Scham
Vor Jahren sass ich einmal in einem sehr liebevoll und aufwändig gestalteten Karfreitags-Gottesdienst, in dem man sich an verschiedenen Stationen mit der Botschaft vom Kreuz beschäftigen konnte. Ich bekam mit, wie links von mir Menschen tief in Andacht und Gebet versunken waren. Hinter mir weinte jemand herzzerreissend, rechts von mir sass jemand mit einem breiten glücklichen Lächeln und Tränen der Dankbarkeit im Gesicht und vor mir hoben Menschen die Hände und streckten sich sehnsuchtsvoll nach Gott aus. Und ich? Ich sass mittendrin und hatte diese «Aha-Stimmung». Ich war vollkommen unbeteiligt; zwar gedanklich anwesend, aber emotional total nüchtern. Keine Traurigkeit, keine Dankbarkeit, keine Betroffenheit ... einfach nichts. Am ehesten noch fühlte ich mich genervt von all diesen unübersehbaren Emotionen um mich herum, die ich einfach überhaupt nicht teilen konnte. Dann wiederum kamen zwei starke Gefühle in mir hoch: Schuld und Scham. Dafür, dass der Kreuzestod Jesu mir anscheinend völlig egal war und mich total kalt liess. Ich fühlte mich «falsch» und fehl am Platz und hoffte, ich könnte irgendwann unbemerkt verschwinden. Bis sich dazu eine Gelegenheit ergab, sprach ich im Stillen mit Gott: «Was ist hier los? Ich kann mit all dem hier überhaupt nichts anfangen. Alle sind total emotional dabei und mich nervt es einfach nur! Aber wie bescheuert bin ich denn, dass mich das nervt? Und warum bin ich so kalt? Warum fühle ich nichts? Bin ich eine Heuchlerin und glaube eigentlich gar nicht richtig? Was stimmt nicht mit mir?!» Ich war jetzt nicht mehr nüchtern und sachlich, sondern sehr aufgewühlt und verzweifelt über mich selbst.
Dann «hörte» ich eine Art Stimme in mir, die sagte: «Warte mal! Hier geht es doch gar nicht um dein Gefühl! Dass ich am Kreuz gestorben bin und dich dadurch befreit habe, ist eine Wahrheit und kein Gefühl! Dass ich dich liebe und dir wieder und wieder vergebe, ist eine Tatsache und kein Gefühl! Meine Gnade für dich braucht überhaupt kein Gefühl von dir, um wirksam zu sein. Sie wird doch nicht erst durch eine emotionale Antwort von dir gültig! Ob du all das fühlst oder nicht – völlig egal! Ich liebe dich und ich bin gestorben, um dich zu erlösen! Das ist die Wahrheit! Das gilt! Und allein darum geht es!»
Eine wichtige Lektion
Wow! Das ging tief rein und bewegt mich bis heute. Es war eine ganz wichtige Lektion für mich, die ich seitdem schon oft und gerne immer wieder geteilt habe. Gott ist kein Gefühl! Gott ist Realität! Und wenn ich ihn eingeladen habe, sich in meinem Herzen Raum zu schaffen, dann lebt er in mir. Und dann ist er mir nicht nur nah, sondern er ist eins mit mir und ich bin eins mit ihm. Egal, ob mein «Gefühls-Ich» das nachvollziehen kann oder nicht.
Heisst das jetzt also: Glaube braucht kein Gefühl und ist eine reine Verstandesangelegenheit? Geht es nur um Wissen und Verstehen? Sicher nicht, denn dafür sprengt Gott viel zu häufig meinen Verstand und mein armseliges menschliches Wissen reicht niemals aus, um Gott in seiner Grösse annähernd zu erfassen. Vor allem aber ist der Glaube doch Beziehung. Vertrauen. Ich glaube nicht nur, dass Gott existiert (so wie ich glaube, dass es tief im Ozean noch viele unentdeckte Fischarten gibt), sondern ich glaube an seine Liebe, an seine Macht, seine Gnade und ich vertraue ihm mein Leben an. Heruntergebrochen auf den Alltag bedeutet das: Ich vertraue ihm meine Gedanken an, meine inneren Kämpfe, meine Gefühle und eben auch meine Gefühllosigkeit. Mein «Aha».
Emotionale Berührungen
Ohne Frage braucht eine Beziehung Gefühle. Eine Freundschaft ohne das Gefühl von Sympathie würden wir nicht als Freundschaft bezeichnen. Und eine Partnerschaft ohne das Gefühl von Anziehung und tiefer Verbundenheit hat nicht lange Bestand. Auch reicht es einer Mutter nicht, zu wissen, dass sie Mutter ist und Verantwortung für ihr Kind hat. Nein, sie braucht Muttergefühle, um sich ihrem Kind liebevoll und zärtlich zuwenden zu können. Und so brauchen wir auch in unserer Gottesbeziehung emotionale Berührungen. Ein inneres Bewegtsein, das in unserem Herzen und nicht im Grosshirn stattfindet. Wir können es aber nicht erzwingen, sondern bekommen es von Gott geschenkt. Er kennt uns – Gott sei Dank – und weiss, über welche Kanäle wir am ehesten emotional erreichbar sind: Musik, Worte, Natureindrücke, menschliche Begegnungen, Stille, sein Wort…
Ich bin fest überzeugt: Um für Gott gefühlsmässig ansprechbar zu sein und von ihm berührt werden zu können, müssen wir nur eines tun: Mit ihm in Beziehung bleiben. Uns ihm zuwenden mit allem, was in uns ist: Wärme oder Kälte, intensive Gefühle oder «Aha». Wenn ich meinem Partner sage: «Ich weiss, dass du mich liebst, und ich glaube es dir auch. Aber gerade kann ich es nicht fühlen», dann stelle ich damit Nähe her. Ich vertraue ihm mein Inneres an und damit schaffe ich die beste Grundlage, um auch wieder Gefühle aufkeimen zu lassen. Gott nicht zu fühlen, ist für ihn überhaupt kein Problem, denn er ist mehr als ein Gefühl. Und wir sollten es auch nicht als Problem oder gar als Schuld begreifen, sondern anerkennen, dass unsere Gefühlswelt eine eigene Dynamik hat und sich nicht nach unseren Erwartungen richtet. Und diese Dynamik, ganz gleich, wie laut oder leise sie gerade ist, darf ich mit Gott teilen, wahrhaftig sein und mein volles oder auch leeres Herz vor ihm öffnen. Er ist da. «Ahaaa!!!»
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Datum: 16.02.2025
Autor:
Angelika Heinen
Quelle:
Magazin Joyce 01/2025, SCM Bundes-Verlag