Mehr als Passivität

Prophetische Gelassenheit

US-Theologe Reinhold Niebuhr
Der US-Theologe Reinhold Niebuhr ist hauptsächlich in Fachkreisen bekannt. Was aber viele schon einmal gehört haben, ist sein Gelassenheitsgebet, das zum Beispiel die Anonymen Alkoholiker verwenden. Die Idee dahinter ist für jeden interessant.

«Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.» Diese Sätze werden weltweit gemeinsam von Menschen gesprochen, die sich bei den Anonymen Alkoholikern treffen. Nicht für alle haben sie etwas mit Gott zu tun oder zählen sie als Gebet. Aber alle, die diese Worte gebrauchen, wünschen sich herauszukommen aus Unruhe, Stress, krank machenden Strukturen und einem Ungleichgewicht im Leben. Sie wünschen sich Gelassenheit. Aber was ist das eigentlich?

Wer gelassen sein will, muss lassen

Der Begriff der Gelassenheit wird von Menschen unterschiedlich gefüllt. Die eine wäre gern etwas entspannter, wenn sie einem langsamen Autofahrer hinterherfahren muss, der andere wünscht sich einen souveränen Umgang mit seinem Chef – oder auch mit seiner Familie. Während die meisten sich Gelassenheit als Gemütsruhe wünschen, gibt es durchaus auch Menschen, die sie als Gleichgültigkeit bis hin zur Abwesenheit von Gefühlen verstehen. Schon die alten Griechen betonten, dass es einfach unvernünftig sei, etwas ändern zu wollen, das man nicht abwenden könne – wie zum Beispiel den eigenen Tod – oder mit etwas zu rechnen, das nicht planbar sei – wie zum Beispiel das eigene Glück.

Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart verwendete das Wort Gelassenheit zuerst auf Deutsch und bezog es eindeutig auf Gott und ein Leben im Jetzt. Er betonte: «Man muss erst lassen können, um gelassen zu sein.» Dabei ging es dem Dominikanermönch nicht um Stressbewältigung, sondern um eine lebenslange Gottsuche, darum, dass der Mensch alles loslässt, was ihn bindet, damit er Gott begegnen kann: «Geh völlig aus dir selbst heraus um Gottes willen, so geht Gott völlig aus sich heraus um deinetwillen.»

Ein Gebet aus Krisenzeiten

Das sogenannte «Serenity Prayer» (Gelassenheitsgebet) stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs von dem US-Theologen Reinhold Niebuhr (1892-1971). Der deutschstämmige Pastor kam während der Wirtschaftskrise in der Autostadt Detroit zur Welt. Er suchte Antworten des Glaubens auf die drängenden sozialen Probleme und Ungerechtigkeiten seiner Zeit, so wurde er ein wichtiger Vertreter der «Social Gospel»-Bewegung.

Bei den alttestamentlichen Propheten bemerkte Niebuhr eine Haltung, die er bildhaft als «Arche» bezeichnete: Diese hatten sich einen gewissen Abstand zu ihrer Umwelt bewahrt, ohne dabei gleichgültig zu werden. Sie waren vielmehr davon überzeugt, dass ihr Glaube trotz traumatischer Erfahrungen tragfähig für ihre Zeit war. Gleichzeitig gestalteten sie ihre Umgebung nach Kräften mit. Niebuhr rief dazu auf zu schauen, was die Menschen tatsächlich tun konnten, und forderte sie auf, diese Dinge mutig anzugehen. Die Wurzeln des Gelassenheitsgebets in krisenvollen Zeiten spürt man ihm ab – das macht seine breite Akzeptanz bis heute aus.

Handeln gehört dazu

Wer betet, kann nicht passiv bleiben. Das gilt für jede Art des Gesprächs mit Gott und natürlich auch für das Gelassenheitsgebet. Trotzdem geht es darum, auch Gegebenheiten zu akzeptieren. Für manche davon muss man sicher erst etwas älter werden – dann wird das Loslassen normaler –, aber ein Stück weit brauchen wir alle dieses Wissen: Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen, was vergangen ist, ist vergangen.

Das Leben findet heute statt, weder in einem ständigen Rückblick noch nur in der Erwartung auf morgen. Und es ist endlich. Schon die Psalmen fordern uns dazu auf: «Mach uns bewusst, wie kurz das Leben ist, damit wir unsere Tage weise nutzen!» Psalm 90, Vers 12.

Andererseits ist es wichtig zu sehen, dass es vieles gibt, das Gott ändern will und ändern wird. Und genauso wichtig ist es zu erkennen, dass Gott uns bei manchen dieser Gebetsanliegen antworten wird: «Das ist nicht meine, sondern deine Sache – aber ich helfe dir!» Versöhnung passiert nicht automatisch, da sind wir gefragt. Vieles in unserem Alltag können wir so organisieren, dass es uns weniger stresst. Wie gehen wir mit alten Verletzungen um? Bringen wir sie regelmässig zur Sprache oder lassen wir zu, dass sie heilen? Sind uns die Ungerechtigkeiten in unserer Umgebung ein Anliegen – so wie sie Gott am Herzen liegen?

Der Prophet Jesaja drückt das folgendermassen aus: «Nein – ein Fasten, das mir gefällt, sieht anders aus: Löst die Fesseln der Menschen, die man zu Unrecht gefangen hält, befreit sie vom drückenden Joch der Sklaverei und gebt ihnen ihre Freiheit wieder! Schafft jede Art von Unterdrückung ab! Teilt euer Brot mit den Hungrigen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen!» (Jesaja, Kapitel 58, Verse 6-7)

Gelassenheit

Gelassenheit ist einer der Werte, die wir in unserer Gesellschaft brauchen, wo man sich permanent (und oft über das Falsche!) aufregt. Wir sind persönlich darauf angewiesen, damit wir nicht völlig aus der inneren Balance kommen. Und das Gelassenheitsgebet kann ein erster Schritt in diese Richtung sein:

«Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»

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Datum: 21.08.2023
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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