«Wir sind nie mit reinen Motiven unterwegs»
Wer eine Leitungsaufgabe hat, wird automatisch mit Macht konfrontiert. Sie hat vorerst mal sehr viel Positives. Wer Macht hat, kann nicht nur reden, er kann auch etwas machen, bewegen, inszenieren und beeinflussen. Macht ist mit Freiheit verbunden. Ohnmächtige können nichts mehr bewegen. Die Möglichkeit zum Machtmissbrauch schwingt aber immer mit.
Wie lässt sich Machtmissbrauch verhindern?
Vorerst bin ich mal selber gefragt. Als Gemeindeleiter lege ich jedes Jahr gegenüber meinem Leitungsteam Rechenschaft ab. Ich frage, wie ich als Leiter wirke, Leiterschaft lebe und die Vision der Gemeinde umsetze. Damit öffne ich die Türe für ein ungeschminktes Feedback. So können mir andere dreinreden und mir zeigen, wo ich meine Grenzen allenfalls überschritten habe.
Auf der anderen Seite kann und sollte die Organisation die Macht bewusst auch von aussen kontrollieren. Dazu gehören regelmässige Mitarbeitergespräche mit den Vorgesetzten im übergeordneten Chrischona-Verband. Man kann die Zahlen der Buchhaltung überprüfen. Geistliche Früchte lassen sich nicht so leicht messen. Weil wir als Freikirche wirklich frei und selbständig sind, ist es umso wichtiger, dass ich meine persönlichen Motive immer wieder auch selber überprüfe.
Wo spielt Macht in der Tätigkeit eines Pastors eine Rolle?
Als Gemeindeleiter wurde mir Macht amtlich verliehen. Es gibt dabei drei Arten von Macht. Sie spielt eine Rolle beim Predigen, beim Bestimmen der «richtigen» Lehre. Wenn der Pastor etwas sagt, hat das Gewicht. In der Seelsorge habe ich eine ähnliche Macht wie ein Therapeut. Und schliesslich kommt die Macht beim Leiten zum Tragen, beim Vorgeben und Umsetzen der Vision für die Gemeinde.
Macht ist eine Art Tauschgeschäft. Mit der Anstellung geben mir die Glieder der Gemeinde einen Teil ihrer eigenen Autorität ab, kombiniert mit einem Vorschuss an Vertrauen. Daraus kann ich etwas Sinnvolles machen. Wenn das gelingt, gebe ich der Gemeinde Sicherheit, Klarheit, Orientierung und Perspektive zurück. Im Idealfall entsteht ein Kreislauf. Die Gemeinde wird gefördert und die Leute vertrauen mir noch mehr. Wenn alle ihren Teil zu diesem Kreislauf beitragen, prosperiert die Gemeinde. Im anderen Fall werden mir die Gemeindeglieder ihr Vertrauen entziehen und auf Distanz gehen.
Wie können Ihnen die Gemeindeglieder zeigen, dass Sie Ihre Grenzen überschreiten?
Sie entziehen mir Macht, indem sie mir den Geldhahn zudrehen. Wenn die Spenden zurückgehen, muss ich mich fragen, ob ich etwas falsch gemacht habe. An der jährlichen Versammlung der Gemeindeglieder kann auch mal offen die Frage besprochen werden, wie meine Leiterschaft erlebt wird.
Und wann erleben Sie Ohnmacht?
Ich kann den Menschen zwar den Weg zum Glauben zeigen, aber niemanden zu diesem Weg zwingen. Die geistliche Entwicklung der Gemeindeglieder kann ich nur flankierend unterstützen. Im Kern meines Auftrages bin ich sehr ohnmächtig. Ich muss aufpassen, dass ich nicht Machtmittel einsetze, um dieser Ohnmacht zu begegnen. Indem ich etwa als Gebetsziel vorgebe, dass im laufenden Jahr drei Menschen zum Glauben kommen. Oder Veranstaltungen mit dem Ziel organisiere, die Gemeinde zu vergrössern und meinen Ruf zu verbessern.
Bei einer Freikirche ermöglichen die Gemeindeglieder der Gemeindeleitung durch ihre Spenden, dass sie etwas tun kann. Gleichzeitig sind Freikirchen, wenn sie richtig funktionieren, Beteiligungsgemeinden. Ohne Freiwilligenarbeit lässt sich nur sehr wenig machen. Beides gibt der Basis Macht.
Das ist so. Ich vermittle den Leuten, dass sie in unserer Gemeinde nicht Opfer sind, schon gar nicht ein Opfer von mir, sondern eigenständige Menschen, die über ihr eigenes Leben und ihre Entwicklung entscheiden. Ich fordere sie auf, Macht zu übernehmen. Als Gemeindeleiter kann ich meine Gemeindeglieder nicht retten oder ihre Probleme lösen. Jedes Gemeindeglied entscheidet über sein eigenes Leben. Auch darüber, ob es diese Kirche cool findet und sie finanziell unterstützen will.
Als Leiter versuche ich, mich von dieser Machtverteilung nicht abhängig zu machen. Wenn jemand die Gemeinde finanziell sehr stark unterstützt, mich aber gleichzeitig kritisiert und mit seinem Weggang droht, werde ich vor ihm nicht auf die Knie gehen und ihn zum Bleiben auffordern. So wäre ich ein Opfer, das Macht ausübt. Ich werde einem solchen Menschen stattdessen signalisieren, dass er einen freien Entscheid fällen darf. Gleichzeitig werde ich mir überlegen, ob es Dinge bei mir gibt, die ich allenfalls ändern sollte. Bei dieser Analyse werde ich mein Leitungsteam einbeziehen. Diese Menschen sind es gewohnt, mir auf Augenhöhe zu begegnen.
Offensichtlich gibt es in Ihrer Gemeinde sehr flache Hierarchien. Können diese Hierarchien auch mal zu flach sein? Anders gefragt: Müssen Sie manchmal auch zeigen, dass Sie der Leiter sind?
Ja, wir haben eine Hierarchie. Ich sehe mich aber nicht an der Spitze der Pyramide. In meinem Denken habe ich die Pyramide gekippt. Meine Aufgabe als Leiter ist es, die Gemeinde weiterzubringen. Ich sehe die Gemeinde eher als Netzwerk. Wenn ich mit meinem Predigerkollegen über eine Predigtreihe diskutiere, hat er dazu genau so viel zu sagen wie ich selber. Das bessere Argument gewinnt. In diesem Netzwerk können alle Knoten – alle Gemeindeglieder – einen fruchtbaren Beitrag zum Ganzen geben.
In der Kirchengeschichte kam es immer wieder zu Spaltungen, gerade auch bei Freikirchen. Heute gibt es als Variante davon eine Welle von Gemeinde-Neugründungen. Wo sehen Sie in diesen Vorgängen das Wirken des Heiligen Geistes? Und wo geht es mehr um Machtfragen?
Ich glaube nicht, dass es möglich ist, eine Gemeinde mit reinen Motiven zu leiten. Ich habe immer zwei Herzen in meiner Brust. Ich bin nicht der Heiland, der nur mit reinen Motiven unterwegs ist. Bei mir ist immer auch das Ego wirksam. Wenn man dieser Tatsache ins Auge schaut, sinkt die Gefahr, dass das Ego plötzlich überhandnimmt und sich als Stimme des Heiligen Geistes tarnt. Wir sollten lernen, ehrlich miteinander über das zu reden, was uns antreibt.
Ich glaube auch nicht, dass der Heilige Geist allein zu Gemeinde-Neugründungen führt. Man müsste vielleicht sagen, dass man nach reiflichem Überlegen und Gebet zur Einsicht gelangt sei, dass dies nun der richtige Schritt sein könnte. Gott kommt auch mit unseren unreinen Motiven zurecht. Wir sollten uns aber von ihnen nicht unbesehen treiben lassen.
Wie helfen Sie einem jungen Prediger, ein vollmächtiger Diener am Wort zu werden?
Vollmacht bedeutet für mich nicht, 100 Prozent Macht zu haben. Gott gibt mir Macht, aber auch Menschen tun das. Vollmacht wäre dann gegeben, wenn diese Kombination fruchtbar wird. Ich empfehle jedem jungen Prediger, Tag für Tag seine Hausaufgaben zu machen. Treu zu sein im Kleinen und diszipliniert im Verborgenen. Er soll die Beziehung zu Christus pflegen, treu im Gebet sein und nicht zwischen dem geistlichen und dem Privatleben trennen. Wenn er so jeden Tag kleine Brötchen backt, wird er in 20 Jahren ein vollmächtiger Prediger sein.
Im Kleinen treu sein heisst auch, im Job treu zu sein. Ich spüre bei mir auch nach 30 Jahren noch immer Lernbedarf beim Predigen. Wir werten im Leitungsteam jede Predigt aus und helfen einander zu einer besseren Qualität.
Es ist wichtig, zuerst mal Macht über sich selbst auszuüben und das eigene Leben zu disziplinieren. Wer sein Leben selbst gestalten kann, kann auch andere führen.
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Datum: 17.03.2019
Autor: Hanspeter Schmutz
Quelle: Magazin INSIST