«Die Psalmen – mehr als schöne Sprüche»
Livenet: Beat Weber, Sie haben in zwei Büchern Psalmen ausgelegt und in einem dritten Band eine Gesamtschau versucht. Verstehen wir den einzelnen Psalm besser, wenn wir das ganze Buch der 150 Psalmen vor Augen haben?
Beat Weber: Wir verstehen ihn richtiger, weil bibelgemässer. Die Bibel ist kein Telefonbuch, kein Steinbruch und auch kein Sammelwerk schöner Sprüche oder Psalmverse, wo man nimmt, was man braucht! Wie in den Evangelien eine Erzählung sich entwickelt, so auch im Psalmenbuch. Wenn wir den allseits bekannten Psalm 23 einmal im «Sandwich» lesen, d.h. zwischen Psalm 22 und 24, stellt sich ein tieferes Verstehen ein.
Was heisst es für Sie, durch das ganze Buch der Psalmen zu wandern? Was gewinnen Sie dabei?
Wie wenn man auf einen Berg wandert: eine Gesamtsicht. Es sind mehr als Momentaufnahmen, wenn ich nach der Einführung (Psalm 1–3) von der Klage (Psalm 3) bis zum Lobpreis (Psalm 150) «wandere» und Tiefen und Höhen meditierend und betend durchlebe, wie eben im Leben auch. Das ist dann auch mehr als biblisches «fast food» – aber das wollte die Bibel nie sein.
Anleitung und Verheissung gibt es zu Beginn (als Proviant) in Psalm 1,2: Ich bin eingeladen, immer wieder den Psalter meditierend und memorierend zu durchwandern und mich und die Welt in die Bibel einzutränken, betend vor Gott. Dafür werde ich selig gepriesen (Psalm 1,1, ähnlich wie Jesus die Bergpredigt anfängt) und dafür wird «gelingendes Leben» versprochen (Psalm 1,3).
Brauche ich eine andere Brille, um die Psalmen besser zu verstehen und dieses Versprechen in mein Leben hineinfliessen zu lassen?
Wenn mir in Psalm 1,3 zugesagt wird, dass mein Leben gelingt, ist das keine Verheissung für Bibelfaule und Gottferne, sondern für die, die aus ihr leben, wie die beiden Verse vorher sagen. Wir brauchen keine «Brille», sondern sollen diese Leseanleitung, die uns Psalm 1 gibt, ganz einfach beherzigen und einlösen. Wir müssen nicht besser verstehen; verstehen verbunden mit tun bzw. Gott tun lassen genügt.
Sie sehen die Psalmen als Gespräche, als «vergemeinschaftende Dialoge». Was meinen Sie damit?
Die Psalmen sind nahezu durchgängig Reden. Der Grossteil dabei sind Gebete, also Reden zu Gott. Gemeinschaft und Intimität drückt sich – wie in einer Ehe – im vertrauten und offenen Dialog aus. Man kann Gott respektvoll alles sagen. In den Psalmen reicht die Spannbreite der Reden zu Gott von Anklage an Gott bis zum höchsten Lobpreis an ihn. Dass nur einer redet, macht aber noch kein Gespräch, keinen Dialog aus.
Wo und wie redet und antwortet Gott?
Es gibt verschiedene Hinweise, zunächst die Tatsache, dass der jeweilige Psalm ins Psalmenbuch und damit in die Bibel Eingang gefunden hat. Das darf als Zeichen dafür gewertet werden, dass seine Worte – sogar mehrfach – Erhörung bei Gott fanden und Leben veränderten.
Zweitens finden sich (prophetische) Gottesworte in den Psalmen selbst (vgl. etwa Psalm 81). Zuletzt und vor allem: Die Psalmen sind Teil der Bibel, die Bibel aber ist Gottes Wort an uns. So sind also die Psalmen zugleich Menschenworte an Gott – und sie sind Gottesworte an uns Menschen. Das ist grossartig: Ich darf mit Gottes eigenen Worten zu ihm reden, zu ihm beten! Wenn darauf kein Segen erhörlichen Betens liegt!
Sie schreiben: «Die im Psalter anvisierten Hörenden und Meditierenden sind weniger Einzelpersonen als ein Kollektiv, das die Psalmen empfängt, deutet und aus ihnen lebt.»
In den Psalmen selber ist leicht ersichtlich, dass alle Dank- und Lobpreispsalmen in einer Glaubensgemeinschaft geschehen und diese voraussetzen. Nur bei den Notpsalmen (Klage- und Bittgebete) kann es sein, dass sie allein gebetet werden, weil in ihnen auch eine Isolierung zu Gott und zu Menschen beklagt wird. Vereinzelung aber ist Not, die überwunden werden will. Das Psalmenbuch gehört mit in den Gottesdienst, es gehört der ganzen Kirche.
Wie gehen Sie nach dreissig Jahren intensiver Beschäftigung mit den Psalmen mit Abschnitten um, die anderen Menschen Unheil wünschen oder Gottes vernichtendes Gericht befürworten?
Das ist auch nach 30 Jahren noch schwierig. Ja, es gibt Gerichtsverwünschungen in den Psalmgebeten. Wie wir damit umgehen, ist nicht so schnell und einfach zu beantworten. Ich habe dieser Frage im Buch zehn Seiten gewidmet (S. 116–126). Hier nur ein Aspekt: Diese Gerichtswünsche sind Teil von Gebeten. Sie klagen vor Gott die erlittene Ungerechtigkeit ein, denn Gott ist der Garant von Gerechtigkeit. Die Worte werden also ungeschönt vor Gott ausgebreitet, nicht aber den Menschen um die Ohren geschlagen. Zu bedenken ist auch: Solche Worte sind ein nötiges, aber nicht das letzte Wort – wie Jesus (etwa in der Bergpredigt) spricht und es auch lebt.
Für wen ist Ihr preisgekröntes Buch gedacht?
Für möglichst viele. Zuerst habe ich allerdings an Menschen gedacht, die andere anleiten: Pfarrer und Pastoren, Theologiestudierende und -unterrichtende, auch Lehrer, Hauskreisleiter und andere Dienste. Ein «Werkbuch» soll es sein; man muss damit arbeiten. Es ist ziemlich dicht und nicht «süffig» zu lesen, wie Sirup, den man mit Wasser verdünnen muss. Wasser dazu giessen und den Saft bekömmlich machen für die Leute in der Gemeinde und Gesellschaft, das ist die Aufgabe der angezielten Wiederverwender. Ich sehe mich als den, der ihnen mit diesem Bibelbuch «Mittel zum gelingenden Leben», also «Lebensmittel» anbietet.
Zum Autor:
Dr. theol. Beat Weber, Pfarrer in Linden im Emmental, hat für sein «Werkbuch Psalmen III – Theologie und Spiritualität des Psalters und seiner Psalmen» (W. Kohlhammer/Stuttgart) den diesjährigen Johann-Tobias-Beck-Preis erhalten.
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Datum: 30.11.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet