Phänomen Parallelgesellschaften

Wie sich Migranten integrieren – oder auch nicht

Migranten bringen viele positive Voraussetzungen mit, um sich in Europa zu integrieren. Trotzdem können Parallelgesellschaften entstehen und sogar eigene Rechtsräume. Eine Studie zeigt die Mechanismen auf.
Muslime im deutschsprachigen Europa.
Deutschkurs für Migranten (Symbolbild)

Migranten sind meistens viel familienbezogener als europäische Gesellschaften. Ihre Familien basieren häufiger auf einer Ehe (in Deutschland 80% gegenüber 69% von Menschen ohne Migrationshindergrund), sie sind seltener geschieden und haben öfter drei und mehr Kinder (15% gegenüber 9% ohne Migrationshindergrund). Dies stellt eine Studie von Stefan Luft, Politikwissenschafter an der Universität Bremen, fest.

Risikopotenzial in den Städten

Das sind die positiven Merkmale, an die eine gute Integrationspolitik anknüpfen könnte, was zum Teil auch von Kirchen getan wird. Die Kehrseite: Migrantenfamilien sind doppelt so häufig arm und leben von Sozialleistungen. Sie leben überdurchschnittlich häufig in Grossstädten, und ihre Kinder tun sich besonders schwer, sich ins Bildungs- und Berufssystem zu integrieren. Es kommt – vor allem in Grossstädten – zur Konzentration von ethnischen Gruppen, in Deutschland besonders auffällig sind etwa die Türkenquartiere in Berlin.

Bezüglich der Kinder hält der Bericht Beunruhigendes fest: «Der grössere Teil der nachwachsenden Generation wächst in den grossen Städten unter Lebensbedingungen auf, die die alltägliche Erfahrung der Normalität von Armut, Arbeitslosigkeit, sozialer Ausgrenzung und Apathie, gesundheitlichen Beeinträchtigungen, gescheiterten Familien, möglicherweise auch Gewalt und Vernachlässigung beinhalten.» Sie haben kaum eine Gelegenheit, sich in die Berufswelt zu integrieren und werden zu einer sozialen Hypothek werden, wenn nicht Mittel und Wege gefunden werden, sie in Berufswelt und in die hiesige Gesellschaft überhaupt zu integrieren.

Kettenwanderung und ihre Folgen

Eine der Ursachen dafür ist die «Kettenwanderung». Bereits eingewanderte Personen und Familien ziehen weitere Familienangehörige nach. Dass sich diese Migranten im Rahmen einer Familie bewegen können, ist positiv für ihre psychische Stabilität, bremst aber auch ihre Integration in die europäischen Gesellschaften, wie Stefan Luft feststellt. Vor diesem Hintergrund erhalten Bemühungen Auftrieb, wenigstens die Christen unter den Migranten, die unter ihnen die Mehrheit bilden, zu erreichen. Die kulturelle Distanz ist bei ihnen kleiner als bei Menschen aus muslimischen Kulturen.

Muslime tun sich bei der Integration schwerer, da sie oft ganz andere Rollenbilder von Männern, Frauen, Eltern und Kindern in der Familie mitbringen. Dass Männer, die sich als Alleinernährer der Familie verstehen, oft keine existenzsichernde Arbeit finden, verschärft zudem Spannungen in der Familie. Dazu kommt, dass die Kinder sich oft an der umgebenden Kultur und Rollenbildern orientieren, was sie in Konflikt mit der Herkunftsfamilie bringt. Die Männlichkeitsvorstellungen jugendlicher Migranten führen dann häufig zu Gewaltausbrüchen.

Familienrollen als Spannungsfeld

Der Bericht verweist sodann auf den verbreiteten erweiterten Familienbegriff im türkischen und arabischen Kulturen. Solidarität, Loyalität und Gehorsam gelten dort nicht nur der Kernfamilie sondern auch der Mehrgenerationen-Grossfamilie. Bei einzelnen Zuwanderergruppen hätten sich Stammesidentität und Stammesbewusstsein erhalten, die sich zu Clanstrukturen entwickeln. In Minderheiten der zugewanderten Bevölkerung hätten sich Clans, die von Polizeifachleuten als «ethnisch abgeschottete Subkulturen» bezeichnet werden, herausgebildet. Ihre regionalen Schwerpunkte in Deutschland liegen in Berlin, Bremen, Niedersachsen (unter anderem Celle) und Nordrhein-Westfalen. Es gibt dort bereits eine organisierte Kriminalität und eine Art Paralleljustiz. Die Polizei scheut die Konfrontation mit diesen Gruppen und hält sich aus internen Konflikten heraus, was zum einen die Position der Clans weiter verstärkt und zum anderen das staatliche Gewaltmonopol untergräbt und unglaubwürdig macht, wie Stefan Luft betont.

Nichts tun wird zu teuer

Fazit: Es genügt nicht, diese Entwicklungen nur zu beobachten. Politik und Kirchen sind gefordert, Massnahmen zur Integration zu planen und umzusetzen, auch wenn wichtige Kräfte in der Politik dies verhindern wollen. Es braucht zudem eine aktive Migrationspolitik, wenn es nicht zu Verhältnissen wie in den französischen Vorstädten kommen soll. Das wird uns viel Geld und Arbeit kosten, aber wenn wir hier schlampen, wird es noch mehr kosten. Es ist ermutigend, dass insbesondere die Schweizerische Evangelische Allianz die Herausforderung erkannt hat und die Christen für die Begleitung von Flüchtlingen und Migranten motiviert. 

Zum Thema:
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Datum: 19.09.2016
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet / iDAR

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