Infektiologin fordert zur Nächstenliebe auf
Cornelia Stähelin wirkt, auf ihr aktuelles Befinden befragt, angespannt und verhehlt nicht den massiven Druck, unter dem das Spitalpersonal angesichts der rasant steigenden Fallzahlen steht. Sie hofft, dass der Druck auf Weihnachten hin etwas nachlässt. Sie ist zuständig für komplexe Infekte im Spital und für Tropenmedizin. Auch Impfkampagnen gehören zu ihrem Fachgebiet. Sie ist überzeugt und kann belegen, dass solche Kampagnen weltweit viele Menschen gerettet haben.
Unbegreiflicher Widerstand
Weshalb denn der grosse Widerstand gegen das Impfen, und wie geht Stähelin damit um? Sie holt etwas Luft und weist dann auf ihren kürzlichen Aufenthalt in Guinea hin. Sie hat dort miterlebt wie eine Ladung an Impfportionen ankam und in einem Tag bereits verimpft war. Sie bilanziert: «Wo Menschen bereit zur Impfung wären, fehlt er – und bei uns, die wir die beiden besten Impfstoffe haben, werden sie zuwenig geschätzt. Das tut weh!» Die Impfstoffe bewirken, das ist für sie klar, nichts anderes als Covid zu verhindern. Die bestehenden Ängste könnten offenbar nicht abgebaut werden, bedauert sie.
Die Schule des Immunsystems
Die bisherige Erfahrung zeigt laut der Infektiologin, dass Impfungen weltweit die Ausbreitung vieler schwerer Krankheiten verhindern konnten. Sie erinnert an die Pocken, die Dank der Impfung praktisch ausgerottet werden konnten. Oder auch die Kinderlähmung konnte durch Impfkampagnen um 99 Prozent zurückgedrängt werden. Diese Krankheit gibt es laut Cornelia Stähelin nur noch in wenigen Ländern mit einer zu schwachen Durchimpfung der Bevölkerung.
Zur aktuellen Covid-Pandemie sagt sie klar, sie könne sich nicht vorstellen, wie wir ohne Impfung herauskommen sollen. Die Impfung unterrichte das Immunsystem, wie es die Viren abfangen könne. Zwar schütze sie nicht vollständig, aber sie verhindere schwere Verläufe.
Durchseuchung schwer vorstellbar
«Ist eine Durchseuchung nicht letztlich sinnvoller?», will Moderator Flo Wüthrich wissen. Sie reagiert darauf mit einem Aufruf an alle, die diese Meinung vertreten, einmal einen Blick auf eine Intensivstation zu werfen und sich dann zu fragen: Will ich mir das antun oder es mitverantworten, dass meine Nächsten so leiden? «Wir haben einen altruistischen Auftrag zu verhindern, dass wir jemanden anstecken», so Stähelin. «Auch wenn wir auch als Geimpfte die Ansteckung von Nächsten nicht definitiv verhindern können, sollten wir alles tun, um es zu vermeiden.»
Die Infektiologin wendet sich auch gegen eine «mittelalterliche Haltung», die besagt: Wenn Gott es will, wird es mich halt treffen. Denn Gott habe uns einen Verstand gegeben, der biologische Gesetzmässigkeiten erkennen könne. In unserer Verantwortung liege es, darauf richtig zu reagieren. Gesund zu leben und sich zu ernähren sei ja schon richtig ... aber wir sollten dennoch nicht «einem Tiger ins Maul rennen».
Gott statt Wissenschaft?
Was ist denn daran falsch, wenn Christen auf Gott statt auf die wissenschaftliche Medizin vertrauen wollen? Mit der Folge, dass es zu erbitterten Diskussionen und Abgrenzungen kommt? Cornelia Stähelin ist sich bewusst: «Menschen, die sich lieben, tun sich auch am meisten weh!» Sie sieht sich selbst als Teil der christlichen Community, ist aber darüber befremdet, dass in den Diskussionen der Altruismus (Nächstenliebe, Anm. d. Red.) selten eine Rolle spielt, sondern vor allem Ängste. Ebensowenig kann sie verstehen, dass in den Gesprächen mit Impfskeptikern immer wieder eine fatalistische Haltung «aufpoppt». «Denn wir haben doch von Gott eine Verantwortung bekommen, das Leben in die Hand zu nehmen. Verantwortung für mich und Verantwortung für den Nächsten», so Stähelin. Für sie selbst sei es vor allem wichtig, niemanden anzustecken. Denn: «Es gibt kein Menschenrecht, andere anzustecken!»
Unversehrtheit als Menschenrecht?
Dürfen sich Impfgegner nicht mit einem gewissen Recht auf die Freiheit und die Unversehrtheit des Körpers berufen? Auch dafür hat Stähelin kein Verständnis: «Wie unversehrt ist ein Mensch, der an Covid erkrankt? Wie unversehrt ist jemand, der wegen ständiger Atemnot keinen Schlaf findet und ständig Angst hat zu ersticken – bis zur Panik?» Die Covid-Impfung sei dagegen ganz einfach eine Impfung wie viele andere. Den Pieks zu verweigern und dafür das Risiko einzugehen, seine Nächsten anzustecken, sei unverhältnismässig.
Richtig und falsch unterscheiden
Der Moderator verweist auf christliche Impfskeptiker, die sich eine Geschichte zugeeignet hätten, die zum Teil nachvollziehbar und stringent sei. Stähelin ist sich bewusst, dass es heute populär geworden sei, auch Unwahrheiten im Zeichen der Toleranz stehen zu lassen: «Dass es kaum mehr möglich ist, eine Behauptung als falsch zu bezeichnen, wird uns zunehmend Mühe bereiten.» Sie macht einen Vergleich: «Wenn mir jemand sagt, das klare Wasser in einem Glas sei pinkfarbig, kann ich das nicht mehr widerlegen.» Dann wird sie deutlich: «Wir müssen auch als Mediziner wieder lernen zu sagen: 'Das ist falsch!'» Dazu gibt es laut Stähelin keine Meinungsfreiheit.
Neu dankbar sein
Stähelin ermahnt die Menschen in diesem Land, für ein gutes Gesundheits- und Sozialwesen und vieles mehr dankbar zu sein. Jeden Tag. Für das Spitalwesen, das Bildungswesen und vieles andere. Sie wünscht sich von christlichen Menschen, dass sie sich ans höchste Gebot erinnern, das Jesus ihnen gegeben hat: Liebe deinen Nächsten wie die selbst. Und ein weiteres: Fürchte dich nicht! So wie viele vulnerablen Menschen in der ersten Pandemiephase geholfen hätten, sollten sie jetzt einen zweiten Schritt in ihrer Nächstenliebe tun.
Kirchen müssen Schwache schützen
Wie sollen sich die Kirchen in dieser Situation verhalten? Der Graben geht quer durch Kirchen und Gesellschaft. Für die Kirchen muss es aus Sicht von Cornelia Stähelin das oberste Gebot sein, die vulnerablen Menschen zu schützen. «Das gilt für die Gestaltung der Gottesdienste, in denen sie nicht Angst haben sollten, teilzunehmen. Sie müssen an einer immunisierten Umgebung teilhaben können. Wer dazu nicht beitragen will, kann zum Beispiel per Livestream erreicht werden oder in einem separaten Raum teilnehmen.»
Wichtig sei, dass die Vulnerablen dabei sein können. «Ich stelle fest, dass etliche, die sich nicht impfen möchten, auf die Teilnahme verzichten.» Das sei auch konsequent. Um alle zu erreichen könnten auch Gottesdienste draussen durchgeführt werden, aber das könne wiederum für Ältere ein Hindernis sein.
Den Platz auf der IPS freigeben
«Mich belastet, dass ich öfter beobachte, wie Covid-Erkrankte jede Behandlung einfordern, nachdem sie die Impfung verweigert haben,» so Cornelia Stähelin zum Schluss. «Wer sich als Christ nicht impfen lassen möchte, dem empfehle ich, bewusst auf die Aufnahme in die Intensivstation zu verzichten und aus Gottvertrauen heraus den Platz jemand Anderem zu überlassen. Es tut weh, so viele Schwerkranke zu sehen, die die Erkrankung eigentlich hätten verhindern können.»
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Datum: 11.12.2021
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet