«Ein Apartheid-ähnliches System aufbrechen»
Livenet unterhielt sich mit
Andrea Gasser, der Geschäftsleiterin von «Dignity Freedom Network Schweiz».Andrea Gasser, Sie setzen sich für Dalits ein – wie leben diese heute?
Andrea Gasser: Für Dalits
ist der Alltag bis heute von systemischer Diskriminierung geprägt. Das Konzept
von «rein» und «unrein» ist tief in der indischen Gesellschaft verankert und
teilt auch die Berufsgattungen ein. Die Corona-Pandemie mit dem strickten
Lockdown hat die Unterschiede in der Gesellschaft grell beleuchtet. Der
informelle Arbeitssektor, welcher Millionen von Bauarbeitern oder
Haushaltshilfen umfasst, kam Ende März innerhalb von Stunden zum Stillstand.
Plötzlich hatten diese Arbeiter keinen Job, keine Bleibe, kein Geld und kein
Essen – und sicher keine Sozialversicherung. Die meisten davon sind Dalits.
Wie offen sind die Dalits für den christlichen Glauben?
Wir beobachten, dass Menschen, die länger mit unseren Projekten in Kontakt
sind, interessiert sind an unserem christlichen Weltbild. Die entgegengebrachte
Wertschätzung, die gelebten Werte der Gleichheit, der Würde für alle, sind eine
kontrastreiche, attraktive Alternative. Möchte jemand Jesus nachfolgen, werden
wir die Person nicht zurückweisen. Wir helfen jedoch immer unabhängig von
Religion, Kaste oder Geschlecht. Es gibt bei uns keine «Bekehrungs-Agenda»,
denn wir glauben, dass es als Christ unser Auftrag ist, die Menschen in Würde
und Freiheit zu führen. Auch die Freiheit, die Religion selbst zu wählen.
DFN gibt es in der Schweiz schon länger, was genau tun Sie?
DFN Schweiz ist der verlängerte Arm des indischen Teams, der «Good-Shepherd»-Arbeit.
Unser Ziel ist es, die Menschen in Indien und Südasien in ihrem Kampf um Würde
und Freiheit zu unterstützen. In Indien steht die Arbeit voll und ganz in der
Verantwortung der Einheimischen und ist somit lokal verankert, kulturell
angepasst und relevant. Unter dem Dach der indischen «Good Shepherd»-Kirche – welche
aus der OM-Arbeit heraus entstanden ist – laufen die 100 Good Shepherd-Schulen,
die von 26'000 Kindern besucht werden, die medizinische Arbeit und die
Anti-Menschenhandel-Projekte. In der Schweiz suchen wir nach Partnern, die sich
solidarisch an die Seite dieser Menschen, insbesondere der Frauen, stellen. Die
Projekte brauchen Finanzen und die internationale Aufmerksamkeit! Wir bieten
Schullektionen zum Thema an, pflegen Partnerschaft mit Indien-Interessierten
und nicht zuletzt sammeln wir Spenden. Der Schweizer Franken hat eine grosse
Hebelwirkung, da kann viel bewegt werden!
Was bewegt Sie bei Ihrer Arbeit?
Wenn sich Mädchen in unseren Schulen für ihre Freundin einsetzen, um
diese vor einer Weihung zur Jogini (Anm. d. Red.: Tempel-Prostituierte) zu retten. Wenn Kinder aus ärmsten Familien
bei uns Bildung erhalten, lernen sie viel mehr als Schreiben und Rechnen – ihr
Selbstvertrauen wächst, um der Welt die Stirn bieten zu können. Dies gibt mir
Hoffnung, dass ein Apartheid-ähnliches System
aufgebrochen werden kann. Ich glaube auch, dass die
Anti-Menschenhandel-Initiative das Jogini-System zerschlagen wird.
Gibt es neue Projekte, die bei Ihnen anstehen?
Indien ist ein Land der Gegensätze. Das Gefälle zwischen Arm und Reich
ist gross – rund die Hälfte der Bevölkerung lebt in bitterer Armut – verstärkt
durch die der Pandemie. Das Team in Indien will deshalb rasch und effizient die
Arbeit vorantreiben, speziell im Gesundheitswesen. Wie können wir innerhalb
kürzester Zeit den Zugang zu medizinischer Versorgung ausweiten? Seit August betreiben wir sechs «E-Kliniken» und bis Anfang 2021 sollen es 20 sein, später
dann 100. Dafür müssen wir unser Netzwerk von «Gesundheitsarbeiterinnen»
erweitern, diese schulen, Ärzte-Leistungen einkaufen, Computer und Software für
Patientendossiers anschaffen. Dank den «E-Klinken» werden zusätzlich 120'000
Menschen einen Arzt konsultieren können!
Was können wir im deutschsprachigen Europa aus Ihrer Arbeit unter den
Dalits lernen?
Hierzulande haben wir ein soziales Netz aufgebaut, das ein Leben in Würde
für alle ermöglicht. Klar, es läuft nicht alles perfekt in der Schweiz, aber
wir haben sehr viel Grund, dankbar zu sein. Unsere Einbindung von Minderheiten,
unsere Kompromissbereitschaft – über Regionen, Sprach- und Religionsgrenzen
hinweg – ist elementar für die Gesellschaft und kann nicht hoch genug bewertet
werden. Wir müssen alles daransetzen, diese Werte zu pflegen und nicht aufhören,
uns für diese einzusetzen, zu investieren.
Können Sie eine Geschichte erzählen von jemandem, der durch Ihre Arbeit völlig verändert worden ist?
Da ist zum Beispiel Manjula, eine Dalit-Frau, die aus einer armen
Bauernfamilie stammt. Ihre Eltern wollten Manjula als Jogini – also als rituelle
Prostituierte – weihen, anstatt sie zu verheiraten. Der zu bezahlende Brautpreis
(«Dowry») war unerschwinglich und zudem erhofften die Eltern sich das
Wohlwollen der Götter. Im sogenannten Jogini-System werden junge Mädchen einer
Gottheit geweiht, sind später jedoch keine Heiligen, die Glück für die Familie
und fürs Dorf bringen, sondern «Freiwild» für die Männer im Dorf. Im Vergleich
zur durchschnittlichen Lebenserwartung einer Inderin ist die Lebenserwartung
einer Jogini – verursacht durch physischen und psychischen Missbrauch sowie
sexuell übertragbare Krankheiten – markant tiefer. Manjula jedenfalls konnte von unserem Good-Shepherd-Team gerettet werden
und wuchs in unserem Schutzhaus auf. In der Folge konnte sie die
Good-Shepherd-Schule besuchen, wo sie eine qualitativ gute, englisch-sprachige
Schulbildung geniessen konnte. Anschliessend hat sie die Lehrerausbildung
abgeschlossen und unterrichtet heute an einer unseren Schulen in Nord-Indien.
Sie ist nicht länger eine Bürde für ihre Familie, sondern die am besten
ausgebildete von allen und unterstützt die Familie finanziell! Heute sagt sie:
«Hätte mir jemand gesagt, dass ich es einmal so weit bringe, hätte ich es nicht
geglaubt! Aber hier bin ich, aller Widrigkeiten zum Trotz.»
Zur Webseite:
Dignity Freedom Network Schweiz
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Datum: 28.09.2020
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet