Warum Warten keine Garantie für guten Sex ist
Werfen wir einmal einen Blick ins Schlafzimmer von Debbie und Florian. Die beiden haben sich bereits in der Schule kennengelernt. Debbie kommt aus einer christlichen Familie, Florian hat den Glauben als Teenager selbst für sich entdeckt. Sie sind «mit Jesus unterwegs», wie man so schön sagt. Und das beeinflusst auch ihre Werte. Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Mission und anderes haben einen grossen Stellenwert für sie. Irgendwann ist aus ihrem gegenseitigen Kennen und Mögen mehr geworden. Florian und Debbie haben sich ineinander verliebt. Schnell war ihnen klar: Mit dem Sex wollen wir bis zur Ehe warten. Das begleitete sie durch die Jahre, in denen sie sich näher kennen und lieben lernten. Und ihr christliches Umfeld unterstrich diesen Gedanken immer wieder: durch gut gemeinte Tipps anderer, Bücher, Vorträge zum Thema und vieles mehr. Schliesslich war es so weit – die beiden heirateten. Und dann liess sich der Schalter nicht einfach herumdrehen: Jahrelang war Sex ein No-Go und schädlich, jetzt sollte er auf Anhieb funktionieren. Ausserdem hatten sie ja aufeinander gewartet in dem Wissen, dass es umso schöner würde … wurde es aber zunächst nicht.
Debbie und Florian sind nur fiktive Personen. Aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht zu Tausenden gibt. Frauen und Männer, die sich den Sex bis zur Ehe aufsparen, und dann merken, dass es schwer ist, jetzt zu geniessen, was sie sich vorher versagt haben. Oder die auf dem Weg dahin «versagen».
Zwei Missverständnisse
Wer mit dem Sex bis zur Ehe warten will, kann in zwei Hauptmissverständnisse hineinlaufen. Eines kam noch gar nicht richtig zur Sprache. Wer sagt denn, dass Warten verkehrt ist? Das Warten aufeinander kann tatsächlich eine echte Bereicherung sein. Es ist nämlich nicht per se verkehrt, wenn Partner miteinander wachsen und ihre Beziehung reift, ohne dass sie bereits miteinander schlafen. Die Hochzeit ist in Wirklichkeit ein oft totgesagtes Erfolgsmodell (Tatsächlich heiraten in Deutschland immer mehr Paare. Gleichzeitig sinkt die Scheidungsquote seit 2005 permanent.). Selbst ein Begriff wie «Keuschheit» klingt fürchterlich altbacken, ist aber an sich eine spannende biblische Idee.
Das andere Missverständnis klang oben bereits an. Wer seinen Fokus aufs Warten legt, als hätte dies einen Wert an sich, wird schnell enttäuscht. Da ist die Hochzeitsnacht entweder schambesetzt oder von überhöhten Erwartungen geprägt, die zwangsläufig enttäuscht werden müssen. Dieser Frust und diese Tränen sind allerdings vermeidbar. Die folgenden Gedanken können dabei helfen.
Warten ist kein Selbstzweck
So ehrenwert der Ansatz christlicher Programme wie «Wahre Liebe wartet» ist, so sehr geht er an der Lebenswirklichkeit junger Menschen und auch biblischer Ansprüche vorbei. Der Kerngedanke der Keuschheitsbewegung ist oft ein Gelöbnis. Da verspricht ein Teenager zum Beispiel: «In dem Glauben, dass wahre Liebe wartet, verpflichte ich mich vor Gott, gegenüber mir selbst, meiner Familie, meinen Freunden, meinem zukünftigen Ehepartner und meinen künftigen Kindern, von diesem Tag an sexuell enthaltsam zu leben bis zum Tag meiner kirchlichen Heirat.»
Das kann tatsächlich hilfreich sein. Und es kann katastrophal werden, wenn sich die Gedanken nur noch ums Warten und um Enthaltsamkeit drehen (sprich: um Sex). Dann wird dies zum Selbstzweck und ersetzt andere Aspekte eines Lebens mit Gott. Was geschieht, wenn solch ein Teenager scheitert? Dann hat er oder sie nicht nur versagt, sondern ein Gelöbnis gebrochen, sich mit der Gemeinde überworfen und ausserdem keinen Gedanken an Verhütung verschwendet … Nein, Warten ist kein Selbstzweck.
Die Beziehung alltagstauglich machen
Stattdessen ist es wichtig, den Fokus auf eine normale Beziehung zu setzen. Manche Aspekte dabei entwickeln sich quasi von selbst, dazu gehört die Sexualität. Manche brauchen eher «Entwicklungshilfe» wie das gemeinsame Entwickeln eines Freundeskreises und das Gestalten des Alltags. Die Amerikaner haben eine Redewendung: «Guter Sex beginnt in der Küche.» Das bedeutet nichts anderes, als dass die Qualität in der Zweisamkeit – damit ist nicht nur Sex gemeint, aber auch – durch gemeinsam gestalteten Alltag gewinnt: durch essen, spülen, reden, vertrauen und sich verletzlich machen.
Dies beschreibt einen Vorgang, der mit Eheschliessung oder Hochzeitsnacht noch lange nicht am Ende ist. Tatsächlich ist es ein lebenslanger Lernprozess. Übrigens ist es ein typisches Merkmal von Pornografie, dass genau dieser Alltagsbezug keine Rolle spielt. Da geht es unabhängig von Alltag, Arbeit, Glaube, Krankheit, Überlastung und anderen Interessen nur noch um Sex. Eine gewisse Alltagstauglichkeit wirkt da direkt entspannend.
Humor als Schlüssel
Wer Sex als Leistungssport versteht – wie oft, wie lange, wie gut? –, der kann selten darüber lachen. Aber wie entkrampfend und schön kann es sein, über sich selbst zu lachen, wenn das Essen anbrennt, man den Müll neben den Eimer wirft oder etwas beim Sex schiefgeht. Willkommen in der Wirklichkeit!
Ein Missionsleiter hat einmal gesagt: «Ich würde keinen Missionar mehr ins Ausland schicken, der mir nicht erzählen kann, wann er das letzte Mal über sich gelacht hat.» Dasselbe gilt für die Ehe. Es ergänzt noch einmal den Gedanken der Alltagstauglichkeit oben. Und dabei geht es beileibe nicht nur darum, dass etwas nicht klappen könnte – es geht darum, wirklich Spass miteinander zu haben.
Übung macht den Meister
Vieles im Leben braucht Übung: laufen, Auto fahren, sich entschuldigen, einen Vortrag halten, Jojo spielen – und natürlich auch Sex haben. So ist schon viel gewonnen, wenn Paare sich anlächeln können und sagen: «Wir haben noch unser ganzes Leben lang Zeit dazuzulernen.» Die Flitterwochen sind eben erst der Anfang: der Beginn einer lebenslangen Reise. Und wer realistische Erwartungen an Sex hat, also Freude geben und erleben will – in dem Wissen, dass das Ganze noch entwicklungsfähig ist –, der wird dabei besser werden. Und das ist nicht nur körperlich gemeint. Sex ist ganzheitlich. Er ist ein Spiegel der Paarbeziehung. Und es geht dabei um Körper, Herz, Seele und Geist. Um uns als Ganzes.
Und Gottes Sicht?
Der Kirchenvater Augustinus war als junger Erwachsener kein Kostverächter. Schon als Teenager hatte er eine uneheliche Beziehung zu einer Frau und bekam mit ihr auch ein Kind. Im Alter verfiel er ins andere Extrem: Jede sexuelle Beziehung war für ihn sündig. Sie war in der Ehe höchstens um der nötigen Nachkommen willen geduldet.
In diesem Spannungsfeld – zwischen zerstörerischer Freiheit und bedrückender Enge – bewegt sich seitdem die christliche Wahrnehmung der Sexualität. Manche reden sie klein, andere machen sie zur Hauptsache. Und Gott? Er ist sicher nicht mit im Boot, wenn Sex sich verselbstständigt, wenn Menschen damit unterdrückt oder verletzt werden. Andererseits stelle ich mir vor, wie Gott bei der Schöpfung die Geschlechtsorgane verteilt hat und dabei schmunzeln musste: «Mal sehen, wie die Menschen damit klarkommen. Von selbst klappt das nicht. Aber sie können viel Spass damit haben …»
Beantwortet das die Frage, ob Warten sich lohnt? Vielleicht. Debbie und Florian jedenfalls sind sich im Laufe ihrer Ehe darüber klar geworden, dass sie das Warten vor der Ehe völlig überbewertet hatten, und dass es trotzdem gut war. Vor allem aber, dass ihr Miteinander inzwischen – mit Sex, Beten, Sport, Gottesdiensten und allen anderen gemeinsamen Aktivitäten – inzwischen wirklich erfüllend ist. Und trotzdem immer noch besser wird.
Zum Thema:
Das Rezept für guten Sex?!: Der Mythos vom Warten und das Märchen vom Ausprobieren
True Talk über Ehe & Sexualität: Leo und Susanna Bigger: «Wir entziehen uns beim Sex nicht»
Sexualethik in der Bibel: Was die Bibel wirklich zu ausserehelichem Sex sagt
Datum: 22.01.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet