Lust oder Frust?
Mit grossem Elan war Dietmar vor zwei Jahren sein Ehrenamt als Leiter einer Kleingruppe in der Gemeinde angegangen. Andrea, seine Frau, kann sich noch gut daran erinnern. Doch nun betrachtet sie ihn sorgenvoll. Erschöpft lässt sich Dietmar auf das Sofa fallen. Drei Stunden hat sein Hauskreis heute gedauert, nach endlos erscheinenden Diskussionen endete der Abend ohne Ergebnis. Dabei hätte heute eigentlich der Durchbruch sein sollen. Dietmar hatte Gemeindemitglieder angesprochen, ob sie die Aufgabe eines Kleingruppenleiters übernehmen möchten. Er hat sie geschult, Material besorgt und interessierte Besucher in Kleingruppen vermittelt. Hatte all das nichts gebracht?
«Es geht einfach nicht vorwärts – es ist, als ob wir eine Blockade haben», sagt Dietmar schliesslich. «Wir haben so viele Mitglieder und Freunde, aber sie lassen sich schwer motivieren, eine Kleingruppe oder einen Hauskreis zu besuchen. Und dann habe ich viel zu wenige Leiter. Meistens haben diese Personen noch zwei andere Jobs in der Gemeinde und dann wird es ihnen nach den Diskussionen doch zu viel. Gestern war es auch so: Ich hatte endlich genug Leute für einen neuen Hauskreis zusammen, und dann finden wir keinen Termin», brach es aus Dietmar heraus. «Die reden von Aerobic, Musikverein, Fortbildung, Tanzen und Champions League, aber ist geistliches Leben nicht auch wichtig?»
Kleingruppen schaffen Gemeinschaft
Dietmars Frustration hat auch mich bewegt und umgetrieben. Für mich sind Kleingruppen ein fester Bestandteil von Gemeinde. Den Höhepunkt erlebte ich vor 15 Jahren in einer Gemeinde, in der wir 90 Prozent der Besucher in Kleingruppen organisiert hatten. Das Leben in der Gemeinde stand auf zwei Füssen: dem Gottesdienst und den Gemeinschaften in einer Kleingruppe, in der man über geistliche Themen und biblische Texte sprach, sich gegenseitig ermutigte, korrigierte und motivierte. Unter dem Einfluss von Willow Creek, der US-amerikanischen Mega-Gemeinde, bekam das Thema Kleingruppen einen neuen Stellenwert.
Und theologisch haben kleine Gruppen ihre klare Berechtigung, denn wir sind von einem Gott geschaffen, der die Gemeinschafts-DNA in uns angelegt hat. Gleich im ersten Buch der Bibel wird seine Sehnsucht deutlich, die in der Entstehung der ersten Menschen mündet: «Lasst uns Menschen machen!» (vg. 1. Mose Kapitel 1, Vers 26). Und er wollte es auch nicht bei einem Menschen nur für sich belassen. Er schuf ihm ein Gegenüber, denn Adam sollte nicht allein sein. Menschen sind ergänzungsbedürftig – im Neuen Testament sieht man das vor allem am Thema Begabung.
Wir brauchen einander mit der Verschiedenheit unserer Begabungen, um gesunde Gemeinden bauen zu können. Die Erkenntnis der Ergänzung ist nicht neu, aber sehr aktuell, wenn man die aktuellen Studien über Einsamkeit anschaut. Einsame Menschen leiden, sie haben ein erhöhtes Risiko zu erkranken. Da hilft es auch nicht zwangsläufig, einen Gottesdienst zu besuchen. Denn auch mitten in der Menge kann man sich sehr einsam fühlen. Vielleicht hat Jesus deshalb nicht nur auf seine rhetorischen Begabungen vertraut, sondern in kleine Gruppen investiert. Er schickte seine Jünger nicht allein los, sondern sendete sie zu zweit hinaus. Das ist etwas, was Paulus und die Urgemeinde adaptierten. So sind sie auf ihren Missionsreisen und bei den damaligen Gemeindegründungen nicht allein unterwegs gewesen. Jesus selbst scharte eine Gruppe um sich – die zwölf Jünger –, um zu zeigen, wie man Glauben leben lernt.
Kuschelvorteil und Konkurrenz beachten
Kleinere Gemeinden haben etwas, das ich den «Kuschelvorteil» nennen würde. Sie sind so klein, dass man aufeinander achten kann. Aber je grösser eine Gemeinde wird, desto wichtiger wird es, persönlichere kleine Einheiten zu haben, die das eigene Glaubensleben ergänzen.
Im Gespräch mit vielen Verantwortlichen ist mir aber deutlich geworden, dass von dieser Kleingruppen-Bewegung nicht viel geblieben ist. Auch mir gelang es trotz intensiver Bemühungen während der Phase der Gemeindegründung nicht, das Hauskreiskonzept zu implementieren. Und das, obwohl ich als vermeintlicher Experte jahrelang in diesem Bereich gearbeitet hatte. «Woran liegt das?», habe ich mich gefragt und mich auf die Suche gemacht.
Als Erstes fiel mir auf, dass es in meiner Gemeinde jahrelang nur wenige Kleingruppen gab. Und auch in der Muttergemeinde, die uns gegründet hatte, waren nur wenige Kleingruppen zu finden. Es war eindeutig, dass der Besuch von Kleingruppen bisher nicht zum Selbstverständnis bzw. zur Kultur der Gemeinde zählte. Und wenn etwas nicht zur Kultur gehört, dann ist es nur gegen grosse Widerstände und mit grossem Zeitaufwand einzuführen. Denn geistliche Gemeinschaft ist heute nicht mehr nur in Kleingruppen zu finden. War das Kleingruppenkonzept vor vielen Jahren noch die Form für geistliches Wachstum, so gibt es heute viele andere Angebote.
Heute bucht man Stille-Zeiten im Kloster oder man nimmt sich Urlaub für eine Pilgerreise. Bibelkurse werden individuell und online angeboten. Das Angebot für geistliches Wachstum ist grösser geworden und damit auch die Konkurrenz zum Hauskreisabend mit Tee und Gebäck.
Was bedeutet heute Verbindlichkeit?
Nach dieser ersten Erkenntnis fiel mir ein Social-Media-Post von dem Theologen und Gemeindeaufbau-Experten Christian A. Schwarz in die Hände, in dem er über den Begriff Verbindlichkeit schrieb. Der Theologe formulierte das, was ich selbst schon länger beobachtet hatte, aber nicht richtig greifen konnte. Er beschrieb darin, dass Verbindlichkeit vor 30 Jahren bedeutete, dass man an vier von vier Sonntagen den Gottesdienst und zusätzlich unter der Woche zwei- bis dreimal Veranstaltungen der Gemeinde besuchte. Heute dagegen sind die verbindlichsten Mitarbeiter zwei bis drei Sonntage pro Monat im Gottesdienst und haben Zeit für ein bis zwei Veranstaltungen unter der Woche. Woran liegt das?
Dafür muss ich nur mein Umfeld und mein eigenes Leben anschauen. Da lässt sich als erstes die gestiegene Mobilität erkennen. Meine Geschwister und meine sehr guten Freunde leben alle mindestens 130 km entfernt. Wenn ich sie besuchen möchte, ist ein Wochenende schnell verplant. Dazu kommen zweitens berufliche Herausforderungen, denn den klassischen 8 bis 17-Uhr-Job gibt es nicht mehr. Gemeindemitglieder arbeiten in Schichten und nicht selten auch am Wochenende oder sie sind auf Dienstreise.
Und wo die Arbeit nicht geregelt ist, da ist es auch mit der Erholung schwierig. Die Ruhe wird dann am Sonntagmorgen gesucht oder an den Abenden. Gefühlt werden Termine heute eher abgesagt als noch vor 30 Jahren – kaum verwunderlich, denn es ist ein Leichtes, rasch eine Kurznachricht zu schreiben.
Veränderte Leitungsbereitschaft
Eine weitere Herausforderung in der Kleingruppenarbeit ist die Leiterschaft. In unseren Gemeinden engagieren sich viele verantwortliche Leiterinnen und Leiter. Manche übernehmen sogar mehrere Bereiche, weil sie es können. Und doch ist diese Last manchmal zu hoch, und auf die jüngeren Leitenden wirken diese «Super-Leiter» oft auch abschreckend.
Freiheit und Selbstbestimmung haben für die jüngere Generation ein hohen Stellenwert. Das führt dazu, dass ich immer weniger fähige Leiterinnen und Leiter habe, denn die Jüngeren übernehmen oft nicht so viele Bereiche. Und für den Bereich Kleingruppe brauche ich besonders Begabte. Sie müssen organisieren, planen, inhaltliche Vorgaben machen, Konflikte moderieren, gute Gastgeber und seelsorgerisch begabt sein, idealerweise pädagogisch und soziologisch geschult.
Und selbst wenn man eine so hervorragende Leitungsperson hat, ist es nicht garantiert, dass eine Kleingruppe zustande kommt. Zu viele Variablen bei den Rahmenbedingungen erschweren das Treffen einer Kleingruppe, beispielsweise Tag und Uhrzeit.
Sehnsucht nach geistlichem Leben
Nun frage ich mich: Ist die von Dietmar eingangs geäusserte Frage berechtigt? Ist geistliches Leben nicht mehr wichtig? Nein. Ich glaube nicht, dass es weniger Sehnsucht nach geistlichem Leben gibt. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass wir versuchen, an alten Konzepten festzuhalten, die mit der Lebenswirklichkeit der heutigen Generation nicht mehr in Einklang stehen.
Wir sind selbst ein Teil dieser Gesellschaft geworden: Auch wir sind mobiler geworden, leben Leiterschaft anders als noch vor 20 Jahren und tun uns schwer mit Rahmenbedingungen, die uns nicht passen. Es ist einfach, davon zu schwärmen, dass früher alles besser war. Aber wäre es nicht zielführender, Kleingruppen ausgehend von meinen Erkenntnissen neu zu denken?
Gemeindegruppen neu denken
Was müsste ein Kleingruppenkonzept heute leisten? Für mich sollten Kleingruppen das 3-i-Ziel verfolgen: inspirieren, integrieren, intensivieren.
Eine Kleingruppe sollte inspirieren. Menschen, die in unsere Gemeinden kommen und keine Beziehung zu Jesus haben, sollen in kleinen Gruppen das erleben, was Paulus an die Gemeinde in Korinth schreibt: «Wenn jemand zu euch kommt, soll er erkennen: Gott ist wirklich unter euch.» (vgl. 1. Korinther Kapitel 14, Vers 25). In unserer Gemeinschaft sollen Menschen Gott erkennen. Dafür sind nicht allein der Pastor oder die Band im Gottesdienst zuständig. Das gilt für alle Mitglieder einer Gemeinde.
Eine Kleingruppe sollte integrieren. Es ist erfreulich, wenn neue Menschen zu uns in die Gemeinde stossen. Aber der einmalige Besuch eines Gottesdienstes sorgt noch nicht dafür, dass diese Personen einen weiteren Gottesdienst besuchen oder gar dauerhaft Teil der Gemeinde werden. Und das werden sie in der Regel nicht wegen des grossartigen Programms, sondern aufgrund von Beziehungen, die sie knüpfen.
Eine Kleingruppe sollte intensivieren. Heisst, wir möchten gemeinsam geistlich wachsen und Jesus ähnlicher werden. In einer Gruppe hat dies eine andere Qualität, als wenn ich ein Buch lesen würde.
Zum Thema:
Keine Event-Halle?: Wie kleine Gemeinden grosse Wirkung entfalten können
Hauskreis? Nein, danke!: Die Dynamik von 12-Schritte-Gruppen für Kleingruppen entdecken
Datum: 03.10.2024
Autor:
Matthias Graf
Quelle:
Magazin Christsein Heute 09/2024, SCM Bundes-Verlag