Die Aufgabe der Selbstverwirklichung
«Ich will etwas erreichen in meinem Leben. Mich selbst verwirklichen, stolz auf mich sein. Darum brauche ich jetzt eine Auszeit.» Studien bestätigen, dass – neben finanzieller Sicherheit – Selbstbestimmung und Unabhängigkeit für die Generation Z die wichtigsten Werte sind. Und nicht nur für die Generation Z: Sich selbst zu «verwirklichen», ist ein ganz wesentliches Lebensmotiv für unsere westliche Kultur. Oscar Wilde (1854-1900) hat es auf den Punkt gebracht: «Ziel des Lebens ist Selbstentwicklung. Das eigene Wesen völlig zur Entfaltung zu bringen, das ist unsere Bestimmung.» Den eigenen, individuellen Traum vom Glück zu verwirklichen, sich da von niemandem dreinreden zu lassen – das ist das Ziel von Millionen; es klingt hehr und edel und kommt interessanterweise auch in christlichen Kreisen zum Ausdruck: «Gott, hilft mir, meinen Traum zu leben» und «mich selbst zu finden»; Glaube sei dazu da, «zu meinem vollen Potential zu kommen».
Verbreitete Einsamkeit
Man müsste erwarten, dass diese Lebenshaltung zu mehr Zufriedenheit führt. Statistiken sprechen eine andere Sprache: Nach einer Bertelsmann-Studie von 2024 in Deutschland fühlt sich rund die Hälfte der 16- bis 30-Jährigen «einsam bis sehr einsam». Schuld wird häufig den Umfeldern gegeben, in denen man Regeln folgen muss, die man nicht selbst aufgestellt hat. Ohne unzulässig zu verallgemeinern: Man hat nicht den Eindruck, dass eine Kultur, die sich der Selbstverwirklichung verschrieben hat, im Endeffekt glücklicher und erfüllter ist. Zumal dieser Lebensentwurf individualistisch verstanden wird, was von traditionellen Identifikationsfeldern wie Familie, Nation oder Religion entfremdet. Könnte es sein, dass wir hier letztlich einem Trugschluss folgen?
Die andere Sicht: die Aufgabe der Selbstverwirklichung
Schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung erklärt das Streben nach Glück – «The pursuit of happiness» – zu einem Menschenrecht. Die grosse Frage ist, ob ich, wenn ich mich selbst und isoliert als Ziel sehe, dieses Ziel erreiche. «Verkrümmt in sich selbst» nannten antike Denker diese Lebenshaltung, die letztlich auf einer Lüge aufbaut. Jesus ist brutal – und barmherzig – ehrlich: «Wer sein Leben (so, um jeden Preis) erhalten will, wird es verlieren» Er bietet eine alternative Lösung mit dem Versprechen, dass sie funktioniert: «Setze dich zuerst für das, was Gott wichtig ist, ein – du wirst alles andere dazu bekommen» (Matthäusevangelium, Kapitel 6, Vers 33 frei übersetzt). Zu den Dingen, die Gott wichtig sind (sein Reich) gehört z.B. Gemeinschaft oder die Liebe zum Nächsten – beides durchbricht den Kreislauf der Einsamkeit, Isolation und Armut. Und bringt mich zur Erfahrung, dass meine Identität untrennbar mit dem «Du» und dem «Wir» zu tun hat. Der Weg zur vollen Entwicklung meiner Persönlichkeit (wer weiss eigentlich, was das bedeutet?) führt über Gott, Gemeinschaft und Liebe. Die Verkrümmung in mich selbst ist eine Sackgasse.
Der Schauspieler Jim Carrey sagte einmal: «Jeder sollte reich und berühmt werden und alles tun, von dem sie je geträumt haben, damit sie sehen, dass das nicht die Antwort ist». Dietrich Bonhoeffer drückt es positiv aus: «Der Mensch findet seine wahre Bestimmung und Erfüllung» – man darf ergänzen: die volle Entwicklung seines Potentials – «nur in der Beziehung zu Gott und durch den Dienst an anderen Menschen.» Die «Aufgabe» der egozentrischen, individualistischen Selbstverwirklichung als oberstes Lebensmotto führt interessanterweise zu ihrem Ziel – das ist eine der herrlichen Paradoxien des christlichen Lebensentwurfs.
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Datum: 12.12.2024
Autor:
Reinhold Scharnowski
Quelle:
Jesus.ch / idea Deutschland