Weihnachten war nicht idyllisch
Die Weihnachtsgeschichte ist eine der bekanntesten Erzählungen überhaupt. Meistens wird sie in Idylle verpackt, wo alles ganz nett und friedlich abgelaufen zu sein scheint. So kommt der Eindruck auf, dass Maria ihre Schwangerschaft, die Geburt und auch die darauf folgende Zeit als wunderschön erlebte. Ein genauerer Blick auf die biblischen Schilderungen gibt aber ein anderes Bild.
Römische Besatzung und Engelsbegegnung
Das jüdische Volk wurde von der römischen Besatzungsmacht, welche selbst die Ausübung ihrer Religion behinderte, unterdrückt. Berichte von Aufständen und den darauf folgenden Vergeltungsmassnahmen der Römer wurden herumerzählt und Zolleintreiber, welche der Bevölkerung im Namen der römischen Herrscher das Geld aus der Tasche zogen, brachten viele Menschen in existenzielle Not.
Es war eine dunkle Zeit, in welcher Maria ein Engel begegnete. Die Erscheinung des Himmelsboten war aber nicht minder spektakulär als die überbrachte Botschaft. Als Jungfrau würde Maria einen Sohn gebären, der vom Heiligen Geist gezeugt wurde! Zum Glück gab diese Begegnung Maria die Zuversicht, Gott auf ihrer Seite zu haben, denn jetzt kamen schwierige Monate auf sie zu. Würde ihr Verlobter sie verlassen? Würde sie wie eine Ehebrecherin zum Tod verurteilt worden? Und was würden ihre Eltern sagen, wenn diese sie als eine Unzüchtige betrachteten? Das waren ungewisse Monate.
Gottes Bestätigung und neue Schwierigkeiten
Es muss dann eine riesige Erleichterung gewesen sein, als Josef vom Engel die Wahrheit erfahren hatte. Mit Sicherheit war es eine Bestätigung, dass Gott seine Pläne umsetzen würde. Dieses gestärkte Vertrauen würde sie in Kürze brauchen. Denn auf Befehl der Römer musste sie mit Josef nach Bethlehem wandern. Man schätzt um die 140 km, für welche die hochschwangere Maria wahrscheinlich ein paar Wochen brauchte. Eine wahrhafte Tortur. Dabei bestand die Gefahr, das Kind irgendwo am Wegrand gebären zu müssen.
Ob es in einem Stall, in einer Höhle oder sogar unter freiem Himmel gewesen ist, verrät uns der biblische Bericht nicht. Wir wissen aber, dass Maria kein Haus für die Geburt fand und sie das Neugeborene schliesslich in eine Futterkrippe legte. Das war mit Sicherheit keine idyllische Nacht.
Hirten, Weisen und Flucht
Es ist gut vorstellbar, dass Maria und Josef sich während der Geburt die Frage stellten, wo Gott denn jetzt, wo sie ihn dringend brauchten, war. Wie konnte es sein, dass sie als Obdachlose zum ersten Mal Eltern werden mussten? Doch dann kamen Hirten, die von einer grossen Engelschar erzählten und wie ein Engel ihnen vom Retter der Welt erzählte. Das muss Balsam auf die Seelen der beiden gewesen sein: Gott hatte sie nicht vergessen und würde mit Sicherheit weiter für sie sorgen.
Es mögen Wochen, Monate oder Jahre vergangen sein, als eine Gruppe von Weisen auftauchte – ein Stern hatte ihnen den Weg direkt zu Maria und Josef gewiesen! Sie überbrachten ihnen wertvolle Geschenke. Diese Erfahrung stärkte das Vertrauen der jungen Eltern erneut und verhalf gleichzeitig zu materiellem Besitz. Es sollte aber nicht lange dauern, bis die jungen Eltern den Nutzen der erhaltenen Geschenke erkannten. Ein Engel forderte Josef im Traum auf, nach Ägypten zu fliehen. So entkam die Familie gerade noch rechtzeitig, bevor Herodes alle Kleinkinder in Bethlehem töten liess. Gott hatte sie gerettet und mit ordentlichem Besitz für die Flucht ausgestattet. Das Vertrauen von Maria und Josef war wohl unerschütterlich geworden. Das brauchten sie, denn jetzt waren sie obdachlos und Flüchtlinge in einem fremden Land.
Erinnern wir uns an die grossen Erfahrungen?
Maria und Josef machten grossartige, vertrauensstärkende Erfahrungen. Doch Engelserscheinungen, Hirten, Weisen und auch ein paar dazwischenliegende Ereignisse konnten angesichts der Probleme des Alltags schnell in den Hintergrund rücken. Welche Bedeutung hatten die erlebten Wunder im Blick auf Integrationsprobleme in Ägypten?
Wenn wir die Weihnachtsgeschichte in zehn Minuten erzählen, beleuchten wir (fast) ausschliesslich die wundersamen Dinge. Kaum erwähnt bleiben die dazwischenliegenden Wochen, Monate und sogar Jahre. So waren Maria und Josef Gestrandete, Obdachlose und Flüchtlinge, welche sich längst nicht immer über die vergangenen Engelsbegegnungen freuten. Aber: Sie hatten die Erinnerung, um ihr Vertrauen immer wieder zu stärken.
So geht es uns allen: Wir müssen uns immer wieder an die grossen und kleinen Zusprüche Gottes, an seine Versorgung, seinen Trost und seine Wunder erinnern. In diesem Sinne können wir die Weihnachtszeit auch als Zeit des Erinnerns verstehen. Wir erinnern uns an die speziellen Erfahrungen und die schönen Momente, die unser Vertrauen in Gott gestärkt haben. Letztlich machen uns diese Erinnerungen Mut zum Weitergehen. Genauso wie Maria und Josef dürfen wir alle wissen, dass Gott einen Plan hat und uns nie im Stich lassen wird – egal, was noch auf uns zukommen wird.
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Datum: 15.12.2022
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet