«Schone die Rute nicht»
«Wer seine Rute spart, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.» So steht es in Sprüche, Kapitel 13, Vers 24 und einigen anderen Versen aus den Sprüchen. Weitere Bibelstellen legen zumindest nahe, dass körperliche Züchtigung völlig normal, wenn nicht sogar erwünscht ist. Manche Eltern sehen dies als hilfreiche «biblische» Erziehungsmethode an, andere lehnen es als schädlich, unzeitgemäss und Gottes Wesen widersprechend ab. Weiter auseinander kann man bei der Beurteilung kaum liegen! Typisch dafür ist, dass die Extrempositionen eine grosse Öffentlichkeit erhalten.
So wurde Astrid Lindgrens Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978 berühmt. «Niemals Gewalt!» ist sie überschrieben. Und sie enthält die Geschichte eines Jungen, der einen Stock aus dem Garten holen soll, damit seine Mutter ihn züchtigen kann, weil er etwas angestellt hat. Als er schliesslich weinend zurückkommt, sagt er ihr: «Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.» – Als stummes Symbol liegt dieser Stein fortan in der Wohnung und wird natürlich nicht gebraucht! Gegenpol ist ein christlich geprägtes Verständnis, das Züchtigung als Weg sieht, «dass Menschen korrigiert und für den richtigen Weg zugerüstet werden».
Eine Gesellschaft der Körperstrafen
Meiner Meinung nach beginnt das Missverständnis damit, die Frage der Züchtigung von Kindern zu isolieren. Vom kulturellen Umfeld der Bibel her war es keine Frage: Kinder wurden geschlagen. Das war damals gesellschaftliche Normalität, die nichts mit dem Glauben an sich zu tun hatte. Ein isoliertes Verständnis ist allerdings, dass wir heute nur noch über den Aspekt der Kindererziehung reden und nicht darüber, dass damals selbstverständlich auch Frauen und Angestellte oder Sklavinnen und Sklaven geschlagen wurden. Die Prügelstrafe war fester Bestandteil des Gerichtswesens und das Schlagen der eigenen Kinder sollte im Extremfall bis hin zur Steinigung, also zur Todesstrafe, fortgesetzt werden. 5. Mose, Kapitel 21, Vers 18-21 stellt klar: «Wenn jemand einen widerspenstigen und störrischen Sohn hat, der der Stimme seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und ihnen auch nicht folgen will, wenn sie ihn züchtigen, so sollen sein Vater und seine Mutter ihn ergreifen und zu den Ältesten seiner Stadt führen und zu dem Tor jenes Ortes, und sie sollen zu den Ältesten seiner Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist störrisch und widerspenstig und gehorcht unserer Stimme nicht; er ist ein Schlemmer und ein Säufer! Dann sollen ihn alle Leute seiner Stadt steinigen, damit er stirbt.» Es ist kein Fall bekannt, wo dies vollstreckt wurde, auch heutige Vertreter einer (massvollen) Züchtigung würden diese Verse nie für sich reklamieren, doch die Aussage unterstreicht, dass es eben nicht um eine Unterscheidung zwischen «biblisch» und «unbiblisch» geht, sondern nur um einen kleinen herausgegriffenen Teil von Erziehungsmethoden.
Gesellschaftlicher Wandel
Nicht nur Astrid Lindgren unterstreicht, dass die Frage nach Gewaltfreiheit in der Erziehung heute einen anderen Stellenwert hat als früher. Dazu gibt es wissenschaftliche Einschätzungen, die die Ergebnisse von Körperstrafen und Gewaltfreiheit untersuchen – und daraus einhellig ein «Recht auf gewaltfreie Erziehung» ableiten, wie es in Deutschland seit dem Jahr 2000 Gesetz ist. Eine gesetzliche Regelung, die einem scheinbar klaren biblischen Gebot gegenübersteht, ruft allerdings bis heute – wenigstens bei einigen Christinnen und Christen – Widerspruch hervor. Ist der Nichtgebrauch der «Rute» eine Konzession an den «Zeitgeist», dem man mit einem deutlichen «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!» entgegentreten muss? Auch das ist meiner Meinung nach ein Missverständnis. Ein biblisch legitimierter Ungehorsam gilt nicht für einzelne Erkenntnisfragen, sondern da, wo der Staat den Glauben substanziell bedroht. Sollte das bei Einzelnen beim Schlagen bzw. Nicht-Schlagen von Kindern der Fall sein, hat das Thema einen völlig überzogenen Stellenwert erhalten.
In ihrer «Ethik» halten Thorsten Dietz und Tobias Faix zur Auslegungsgeschichte fest: «Die jesuanische Ethik der Gewaltlosigkeit, die besondere christliche Höchstschätzung von Kindern und die Lerngeschichte, wie schädlich auch leichte Gewalt für Kinder sein kann, haben zu einem Umdenken geführt – im Widerspruch zu einigen konkreten Weisungen, aber im Einklang mit grundlegenden Prinzipien der christlichen Ethik und dem Richtungssinn der christlichen Erlösungsbotschaft insgesamt.»
Biblisches Verständnis
Das biblische Verständnis der Frage nach Gewaltlosigkeit in der Erziehung hat mehrere Ebenen. Es beginnt damit, dass die Bibel kein Erziehungshandbuch ist. Sie enthält an Aufforderungen und Regeln nicht ansatzweise das, was man zur Erziehung seiner Kinder braucht. So wird darin (zeitbedingt) Züchtigung befohlen, aber weder Ermutigung noch Trost oder ein Fördern der Gaben von Kindern. Natürlich sind diese Fragen wesentlich wichtiger als die nach dem Züchtigen, doch sie lassen sich ausschliesslich aus dem Gesamtverständnis von Gottes Liebe entwickeln – und so kommen sie auch in der Bibel vor.
Dieses Verständnis beeinflusst massgeblich, wie wir mit der Frage nach der «Rute» in der Kindererziehung umgehen. Ist sie ein grundlegendes biblisches Prinzip, das so einen dauerhaft gültigen Massstab für Leben und Glauben bildet? Oder ist sie eine allgemeine Regel, die für eine bestimmte Zeit oder ein bestimmtes Volk galt? Manche Gläubige haben an dieser Stelle grosse Angst, die Bibel durch Einteilung in gültig/nicht mehr gültig nach Gutdünken zu missbrauchen. Doch diese Gefahr besteht genauso beim scheinbar wörtlichen Gebrauch – der bei Licht besehen gar nicht so wörtlich ist (siehe oben: Zum Glück bringen Eltern ihre fortgesetzt ungehorsamen Kinder nicht regelmässig zum Steinigen!).
Es gibt kaum Eltern, denen nicht irgendwann einmal «die Hand ausgerutscht» ist. Darum geht es hier nicht. Dafür kann man sich entschuldigen. Es geht um die Grundhaltung der Erziehung. Ist sie ein (gewaltunterstütztes) Drücken in die Richtung Gottes? Tedd Tripp beschrieb dieses Züchtigen in seinem umstrittenen Buch «Eltern – Hirten der Herzen» so: «Wenn während des Disziplinierens das Wachs weich ist, ist es an der Zeit, die Herrlichkeit der Erlösung Christi einzuprägen.» Ich halte dies für ein gefährliches Missverständnis und möchte lieber dem (wörtlichen und biblischen) Vorbild von Jesus folgen, von dem nie die gesagt wird, dass er Kinder schlägt, wohl aber, dass er ihnen die Hände auflegt und sie segnet.
Sehen Sie einen Livenet-Talk vom Oktober 2023 mit Doris Bürki zu dem Thema an:
Zum Thema:
Biblisches Missverständnis: Abgesegnete Faulheit
Macht in der Erziehung: Wie Eltern ihre Macht zum Wohl der Kinder einsetzen
Fachmagazin und Symposium: Freikirchen setzen sich für gelingende Erziehung ein
Datum: 27.11.2024
Autor:
Hauke Burgarth
Quelle:
Livenet