Wilbirg Rossrucker: Rotlichtviertel? Na und?
Mit sympathischem österreichischem Akzent erklärte Wilbirg Rossrucker zunächst, dass sich eigentlich kaum etwas in ihrem Leben geändert hätte. Sie wollte schon früher für Menschen da sein, die auf der Schattenseite des Lebens standen. Und dasselbe würde sie heute tun. Nur früher war der Rahmen ein Bauernhof in Oberösterreich, heute sind es Prostituierte in der Stuttgarter Innenstadt. Was treibt eine extrovertierte, spontane, schwarzhumorige, warmherzige und dominante Mittfünfzigerin zu solch einem Wechsel?
Es war normal, dass jeder zu uns kam
Wilbirg wuchs mit ihren Geschwistern auf einem Bauernhof in Österreich auf. Noch heute meint sie: «Schöner kann eine Kindheit gar nicht sein.» Das betraf die Umgebung, ihre Familie und genauso die Gemeinde, denn ihre Familie war in der Landeskirchlichen Gemeinschaft aktiv. «All das passierte in Freiheit – Enge habe ich damals nicht erlebt.» Durch das Engagement der Eltern kam quasi jeder an den Küchentisch der Familie: Pastoren, Diplomaten aus Gorbatschows Gefolge genauso wie Alkoholiker und Menschen mit anderen Problemen.
Als Kind wollte Wilbirg trotzdem nichts mit Gott zu tun haben. Zweimal entschied sie sich bewusst gegen Gott, doch der gab nicht auf. Während ihrer Konfirmationszeit sah sie einen christlichen Film und begriff, dass Gott mit ihr leben wollte. «Ich drehte mehrere Runden um unsere Kirche» und entschied sich dann dafür, Gottes Angebot anzunehmen.
«In mir drin änderte sich so manches», doch nach aussen blieb sie das Kind aus christlichem Elternhaus. Sie machte ihr Abitur, eine Ausbildung als Hebamme, heiratete und bekam Kinder. Zusammen mit ihrem Mann übernahm sie irgendwann die Verantwortung für den elterlichen Hof.
Der Tag, an dem alles anders wurde
So hätte es weitergehen können, doch nach 20 Jahren zerbrach die Ehe. Wilbirgs mittlere Tochter meinte noch: «Eine Scheidung gibt es nicht. Doch nicht bei uns!», doch genau das geschah. In den kommenden Jahren arbeitete Wilbirg verstärkt im Krankenhaus und wurde leitende Hebamme in der Entbindungsstation. Daneben bewirtschaftete sie den Hof mit Landwirtwirtschaft und 25 Pferden. Irgendwann wurde ihr alles zu viel. Die Diagnose Burnout kam nicht besonders überraschend.
Sie war die ganze Zeit über in der Landeskirchlichen Gemeinschaft und im Kirchenvorstand aktiv, doch plötzlich ging gar nichts mehr. Sie wollte noch in der Bibel lesen, doch «es gingen nur die Psalmen». Gleichzeitig war sie Gott so nahe wie nie zuvor und sie «will diese Zeit nicht missen». Mithilfe einer Therapie kam sie relativ schnell heraus aus ihrem Burnout.
Gott hat noch etwas vor
Während dieser Zeit wurde ihr klar: «Gott hat noch etwas mit mir vor.» Aber was? Sie begann zu beten. Zunächst einmal war sie für ihre Töchter da und begleitete sie durch die Pubertät in Studium und Selbstständigkeit. Nach acht Jahren – die Töchter waren inzwischen ausser Haus – hörte sie auf der Allianzkonferenz in Bad Blankenburg von der geplanten Arbeit der Apis im Stuttgarter HoffungsHaus. Ein Mitarbeiter der Apis hatte ihr von dem neuen Projekt erzählt. Sollte das etwas für sie sein?
Ins Rotlichtviertel? Natürlich.
«Sie wissen schon, dass das eine Arbeit im Rotlichtviertel ist?», fragte er zurück. «Na und?», war ihre erste Antwort. Trotzdem erbat sie sich Bedenkzeit. Im Nachhinein wäre die kaum nötig gewesen, denn zurück in ihrer Unterkunft las Wilbirg in ihrer Bibellese: «Als es aber Gott, der mich vom Mutterleib an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat, wohlgefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn durch das Evangelium unter den Heiden verkündigte, ging ich sogleich nicht mit Fleisch und Blut zurate…» (Galater Kapitel 1, Verse 15-16). Für sie war klar: Gott wollte, dass sie sich hier engagierte. Trotzdem fragte sie ihre Familie und Freunde dazu. Ihre vorsichtige Schwester meinte nur: «Ja, das ist dein Weg.» Ihre beste Freundin meinte zuerst: «Bist du völlig verrückt?», aber sie hatte selbst schon etwas von der Arbeit gehört und ergänzte dann: «Ich weiss, dass das dein Weg ist…» Spannend war in erster Linie die Frage mehrerer Freude, ob sie bereit wäre, ihre Komfortzone zu verlassen.
Im Endeffekt sagte Wilbirg zu. Sie absolvierte Praktika auf der Hamburger Reeperbahn und in anderen Arbeiten unter Prostituierten, um sich vorzubereiten – und sie stieg ein.
In der Leonhardstrasse
Seit inzwischen sechs Jahren arbeitet Wilbirg Rossrucker in einem Haus, das die württembergischen Altpietisten in ein Café umgestalteten – der Besitzer renovierte es nach ihren Wünschen. Die ehemalige Kneipe «Zum Schatten» bietet Prostituierten aus der Umgebung heute als «HoffnungsHaus» einen Ruheraum, Wertschätzung und konkrete Hilfen zum Ausstieg.
Anfangs zweifelte nicht nur die lokale Presse, ob das Ganze funktionieren würde, doch längst gehen Prostituierte aus der Nachbarschaft im Café ein und aus. Wenn Wilbirg Rossrucker gefragt wird: «Wie viele haben sich denn schon bekehrt?», dann verdreht sie ihre Augen und fragt zurück: «Wie lange haben andere schon für dich gebetet?»
Sie ist immer noch begeistert, Menschen kennenzulernen, ihnen Gottes Liebe zu zeigen und den Weg gemeinsam mit ihnen zu gehen. Als Herausforderung sieht sie es, nicht abzustumpfen, sich die Sensibilität zu erhalten und damit klarzukommen, dass es keine schnellen Fortschritte gibt. Wilbirg war 30 Jahre lang Hebamme: Da war jede Geburt ein greifbarer Erfolg. Das funktioniert im HoffungsHaus nicht. Manche Prostituierte kommen schon länger, leiden unter ihrer Situation, aber sie schaffen es nicht, etwas zu ändern. «Da geht es darum, die Hoffnung nicht aufzugeben», unterstreicht Wilbirg. «Und das ist eine echte Herausforderung.»
Berufung konkret
Im Blick auf ihre Arbeit wünscht sich Wilbirg Rossrucker mehr Verständnis für Menschen am Rande, die keinen gutbürgerlichen Hintergrund haben. Gerade Kirchen und Gemeinden sollten hier eine neue Offenheit entwickeln. Und eigentlich hätte sie es gern, «dass es uns gar nicht mehr braucht» – weil Prostitution gesellschaftlich kein Thema mehr ist.
Persönlich wünscht sich Wilbirg eine neue Beziehung. Sie definiert sich nicht als jemand, die geschieden ist und der seitdem etwas fehlt. Trotzdem ist dieser Wunsch vorhanden.
Und wenn andere sie fragen, wie sie selbst erleben können, dass Gott noch etwas mit ihnen vorhat – auch wenn sie schon älter sind oder vieles in ihrer Geschichte dagegenspricht –, dann lächelt sie nur und meint: «Denk einmal weg von deinen eigenen zu Gottes Möglichkeiten hin. Vertrau ihm. Bete nicht nur, sondern fasse den Mut, dich fallenzulassen und loszugehen. Probiere ruhig einmal etwas aus. Gott lässt dich nicht einfach laufen, sondern er geht immer mit.»
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Datum: 26.05.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet