Rail-Pastor Ueli Berger: Gott fährt mit
An jenem Tag, an dem wir uns zum Gespräch treffen, fällt ein Baukran auf einen Führerstand und andernorts werden 49 Schafe von einem Zug erfasst und getötet. Auf meiner Rückreise von Basel gibt es im Raum Zürich massive Verspätungen wegen eines Personenunfalls. Ist das der Alltag eines Lokführers? Und warum hat Ueli Berger die Freude an seinem Beruf nie verloren? Die Antwort des 57-Jährigen kommt ohne Zögern: «Als Lokführer ist man selbständig. Jede Tour ist anders. Die Menschen wechseln sich ab – auf den Bahnhöfen trifft man die ganze Welt!» Lokführer Berger schwärmt: «Die Witterung, die Stimmungsbilder...» Wer schon in einem Führerstand sass, weiss, von welch atemberaubender Perspektive der Berufsmann spricht.
Klar, der Zeitdruck sei gestiegen, sagt er, die Signaldichte habe zugenommen, die Wendezeiten seien massiv verkürzt worden. Ein Lokführer lege heute in der gleichen Zeit viel mehr Kilometer zurück. Doch es gibt auch Erleichterungen. Die klimatisierten Führerstände sorgen für ein angenehmeres Arbeitsklima und: «Früher schleppten wir kiloweise Dienstfahrpläne mit uns herum, heute nur noch ein ultraleichtes iPad.»
Näher als der Pfarrer auf der Kanzel
Ueli Berger verbringt heute nur noch 50 Prozent seiner Arbeitszeit im Führerstand. Seit zehn Jahren ist er als erster Rail-Pastor der Schweiz im Einsatz. Das Mitglied der christlichen Vereinigung RailHope ist überzeugt, dass «Bähnler» geistliche Bedürfnisse haben wie andere Menschen auch. Sie tragen Fragen mit sich herum, die das Leben, den Tod oder auch Verlusterlebnisse betreffen. Ueli Berger hält in täglichen Begegnungen neben den Gleisen die Ohren offen für jene feinen Signale, mit denen Kollegen und Kolleginnen zu verstehen geben, dass sie gerade in Schwierigkeiten stecken.
Berger erzählt von einem Mann, dem es offensichtlich nicht gut ging. Da habe er nachgehakt. Sein Gegenüber stand kurz vor der periodischen Prüfung, die Lokführer alle fünf Jahre beim Bundesamt für Verkehr ablegen müssen. Er konnte nicht mehr schlafen, war nervös. Berger fragte ihn direkt: «Weisst du, wieso dich diese Prüfung so stresst?» Die Antwort kam prompt: «Ja, weil mir als Jugendlicher eine Autoritätsperson eingebläut hat, ich könne nichts und würde nichts werden.» Railpastor Berger erklärte ihm, dass er da eine Festlegung als bare Münze nehme, die so nicht stimme. Er ermutigte den Kollegen und sprach ihm Hilfe zu: «Jesus kann dich von dieser Festlegung befreien.» Mittlerweile hat der Kollege die Prüfung bestanden und Berger trifft sich mit ihm zum Gespräch. Andere kommen auf ihn zu, weil sie um seine Funktion als Pastor wissen – vermutlich ist ihnen der «fromme» Berufskollege näher als der Pfarrer auf der Kanzel.
International vernetzt
Ueli Bergers Job als Rail-Pastor wird über Spenden finanziert. Einen Teil seiner Arbeit investiert er in die Vereinszeitschrift «RailHope Magazin» und in die beliebten Wandkalender mit Lebensweisheiten aus der Bibel. Diese Printmedien erscheinen regelmässig und werden in Aufenthaltslokalen des Personals aufgelegt oder verschenkt. Er besucht auch die von RailHope initiierten Treffpunkte. In der Schweiz gibt es deren 44 – meist in Bahnhöfen oder in unmittelbarer Nähe. Von dort aus werden Aktionen gestartet, wie zum Beispiel in Basel, wo in der Adventszeit Suppe an Bahnpersonal verteilt wird. Und natürlich wird dort auch gebetet: um Schutz auf der Strecke; um Weisheit für Vorgesetzte; dafür, dass die Konzernleitung an christlichen Werten wie Ehrlichkeit festhält und nicht nur nach Gewinnoptimierung strebt.
Als Präsident des Dachverbandes «International Railway Mission» (IRM) trägt Ueli Berger wesentlich dazu bei, dass christliches Bahnpersonal weltweit vernetzt wird. So ist im August 2019 eine internationale Konferenz- und Freizeitwoche in Lunteren im Herzen der Niederlande geplant. Bergers drei Kinder sind inzwischen erwachsen. Darum kann er zusammen mit seiner Frau Karin christliche Bähnler überall auf der Welt besuchen. So sitzt er dann auch mal in Lokomotiven in Indien oder Norwegen und hört Geschichten, die Gott dort mit seinem Bodenpersonal schreibt.
Mit vertrauten Personen sprechen
Ueli Berger ist zudem Teil des SBB-Care-Teams. Dort steht er als Nachbetreuer (Peer) Kollegen und Kolleginnen nach traumatischen Erlebnissen für Gespräche zur Verfügung. Er weiss, dass gerade in solchen Situationen Menschen sehr unterschiedlich reagieren: körperlich mit Schwitzen, Zittern, gedanklich können sich Bilder festbrennen. Einige reagieren emotional mit Wut, Angst oder auch Schamgefühlen, wieder andere legen plötzlich ungewohntes Verhalten an den Tag, ziehen sich zurück, weinen. Er gibt ihnen praktische Ratschläge, um das Erlebte zu verarbeiten. «Es ist ganz wichtig, dass die Menschen mit vertrauten Personen über das, was geschehen ist, sprechen können», weiss Berger. Er rät den Hilfesuchenden, Sport zu treiben oder wenigstens spazieren zu gehen. Nach einem traumatischen Erlebnis Alkohol zu konsumieren, davor warnt er; das könne in einer solchen Phase unverhofft in die Abhängigkeit führen. Dann bei der Rückkehr in den Führerstand respektive bei der ersten Fahrt begleitet ein Vorgesetzter oder jemand aus dem Care-Team die Lokführer.
Schreckgespenster
«Ich fühle eine extreme Geborgenheit im Führerstand», sinniert Ueli Berger. Ob er in der Nacht unterwegs sei oder in einen Tunnel fahre, auch das Schreckgespenst des Suizids auf der Schiene kenne er eigentlich nicht: «Klar denkt man manchmal daran.» Der weisshaarige Lokführer hat in seinen über 30 Dienstjahren schon manche Bewahrung erlebt. Er kramt sein Handy aus der Tasche und zeigt ein Bild. Er war im Raum Aargau mit 80 Stundenkilometern unterwegs. Neben ihm fuhr ein Güterzug. Plötzlich realisierte er, dass da weiter vorne etwas nicht stimmte. Der Güterzug fuhr bei der nächsten Weiche auf seine signalmässig freigegebene Spur – er leitete sofort eine Schnellbremsung ein – während ihm Bilder von aufgeschlitzten Personenwagen durch den Kopf gingen. Er konnte den vollbesetzten InterRegio anhalten, sodass es zu keiner Flankenkollision kam. Seine Passagiere blieben bewahrt. Das sei 2017 gewesen, just in dem Jahr, als bei RailHope das Jahresmotto «Gott sei Dank!» lautete. «Das Bahnsystem ist sicher, aber sobald Sicherheitssysteme ausfallen, kann sich auch das Risiko für Unregelmässigkeiten im Fahrdienst erhöhen», erklärt der erfahrene Lokführer.
Fahren die Loks bald führerlos?
Immer wieder hört man, dass in Zukunft auch auf dem schweizerischen Schienennetz selbstfahrende Züge unterwegs sein könnten. Ueli Berger relativiert das. Es handle sich hier um ein System, das «Automatic Train Operation» (ATO) heisse. Das System automatisiere Bremsvorgänge, optimiere Abfahrten – der Mensch müsse aber die Fahrten weiterhin überwachen und wo nötig eingreifen. Er vermutet, dass dies wohl kaum das Ende des Berufes als Lokführer bedeute, aber sicher weitere Veränderungen mit sich bringe. So glaubt Berger, dass er in acht Jahren bei seiner letzten Fahrt vor der Pensionierung auch noch in den Führerstand einer S-Bahn klettern wird, womöglich mit Halt in Kaiseraugst, seinem Wohnort. «Dort steigt meine Frau ein und zusammen fahren wir nach Basel SBB», träumt er seine Fahrt in die Pensionierung weiter. Auf Gleis 1 – einem Kopfgleis – wird dann, nach rund 40 Jahren, die Laufbahn eines Bähnlers enden, der seine Hoffnung ganz auf Jesus gesetzt hat.
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Datum: 16.10.2018
Autor: Helena Gysin
Quelle: idea Schweiz