«Versöhnung bedeutet, Feinden zu ermöglichen, Freunde zu werden»
Canon Andrew White wurde durch seinen Dienst im Irak unter dem Namen «Pfarrer von Bagdad» international bekannt. Trotz der offensichtlichen Gefahr vor Ort liess er sich erst 2014 vom Erzbischof von Canterbury davon überzeugen, sein Amt als einziger anglikanischer Pfarrer im Irak niederzulegen und nach England zurückzukehren. Trotz gesundheitlicher Einschränkungen führt Andrew White seit 2016 sein Engagement für Versöhnung in Israel, Jordanien und Palästina fort.
Interview
Sie sind verheiratet und haben zwei leibliche und fünf adoptierte irakische Kinder. Seit vielen Jahren leben Sie im Nahen Osten. Dort investieren Sie sich in die Versöhnungsarbeit und unterstützen die leidende Kirche in dieser Region. Wie halten Sie Ihren Glauben stark in all diesen Kriegs- und Konfliktsituationen?
Andrew White: Eine meiner Adoptivtöchter antwortete auf diese Frage: «Wenn du alles verloren hast, bleibt noch Jesus.» Er ist der einzige, der uns Kraft und Kontinuität gibt. Ja, ich habe viele traurige und schwierige Dinge miterlebt, aber kein einziges Mal hat es mich an meinen Glauben zweifeln lassen.
Was sind wichtige Werte, die Sie und Ihre Frau seit je hochgehalten haben?
Meine Frau Caroline hat einen ebenso grossen Anteil an meinem Dienst wie ich. Ohne sie hätte ich nicht die Dinge tun können, die ich tat. Sie hat mich immer ermutigt und wieder aufgeheitert. Dieses gegenseitige Ermutigen in unserer Vision ist definitiv einer unserer zentralen Werte.
Beziehungen sind in Ihrem Leben sehr wichtig. Wie schaffen Sie es, dass Ihre Beziehungen trotz Ihrer vielen Reisen und dienstlichen Herausforderungen stark bleiben?
Beziehungen ‒ und damit verbunden Versöhnung leben ‒ gehört zum Wesen meines ganzen Dienstes. Versöhnung leben bedeutet, Beziehungen ständig zu pflegen und zu erneuern. Das geschieht durch Liebe, die immer auch Geben erfordert. Es kann keine Beziehung existieren und auch keine Beziehung entstehen, ohne grundlegendes Commitment zum Geben und zum Zeigen echter Liebe. Das ist es, was ich tue, und das hält auch meine Beziehungen stark. Dazu gehört auch, dass du deine Zeit und auch dich selbst physisch gibst, damit Menschen für ihre eigene Mission freigesetzt werden.
Versöhnung braucht unendlich Zeit und scheint in einer Welt voller Aggressionen und Terror oft aussichtslos. Das hat Sie nicht davon abgehalten, das Hilfswerk «For Relief and Reconciliation in the Middle East» zu gründen und damit schon Tausenden von Flüchtlingen und verfolgten Christen zu helfen. Wie definieren Sie Versöhnung? Wo finden Sie Hoffnung in «hoffnungslosen» Situationen?
Die Essenz von Versöhnung ist, Feinden zu ermöglichen, Freunde zu werden. Genau dort findet man auch Hoffnung: Da, wo Feinde Freunde werden und wo sie erkennen, dass sie nur dann vorwärts kommen, wenn sie lernen, den anderen zu lieben. Dies ist ein langer, schwieriger Prozess und der gelingt nur, wenn man gegenseitig und wirklich der Geschichte des anderen zuhört. Der Dichter Longfellow sagte: «Wer ist mein Feind? Es ist die Person, dessen Geschichte ich noch nicht gehört habe.» Deshalb geht es darum, die Geschichte des anderen zu hören. Die Waffen niederzulegen und stattdessen die Hoffnung zu ergreifen. Für uns Christen ist dabei das Kreuz zentral, und obwohl wir mit vielen unterwegs sind, die nicht Christen sind, können wir etwas von unserer Auferstehungshoffnung mit ihnen teilen.
Sie leben inmitten von Zerstörung und Leid. Wie können Sie am Glauben an einen Gott der Liebe festhalten?
Ich habe einen einfachen, kindlichen Glauben und kann trotz all des Widerwärtigen Gott immer vertrauen. Natürlich stelle ich die Frage «Warum Herr, warum?», aber das bedeutet nicht, dass ich zweifle. Wie bereits erwähnt: «Wenn du alles verloren hast, bleibt noch Jesus.» Ich weiss mit Bestimmtheit, dass mein Glaube auf nichts Geringeres gegründet ist als auf die Liebe von Jesus in allen Umständen.
Ganz persönlich: Was treibt Sie an? Wo geniessen Sie das Leben und die Fülle in Jesus?
Ich bin tatsächlich ein wenig ein Adrenalin-Junkie. Ich bin gerne in schwierigen und heissen Konfliktgebieten; nichts lieber als Orte, wo es existente Spannungen gibt. Darum geniesse ich das Leben im Nahen Osten und speziell in Jordanien, Israel und Bagdad. Ich geniesse es, hier mit all den Kindern zusammen sein, die schon so viele Jahre Teil meines Lebens sind. Gerade kürzlich in Jordanien feierten wir eine Pudding-Party mit einer Riesenschar junger Menschen ‒ der Älteste 23, die Jüngste 9 ‒ und plötzlich bemerkte ich, dass ich jedes dieser Kinder getauft und gesegnet hatte, jedes Einzelne.
Unser Motto für die Explo 17 ist Neuland. Wo haben Sie in den letzten Jahren Mut gebraucht, um Neues anzupacken und Neuland einzunehmen?
Ich brauche täglich Mut für mein Leben und entdecke ständig neues Land. Gerne erzähle ich davon, wenn ich bei euch bin; es gibt aber für jeden von uns endlos neue Erfahrungen, Ländereien und Horizonterweiterungen im verheissenen Land.
Sie sind durch Wüsten gereist und haben unbekannte Länder besucht. Wie würden Sie eine junge Christin, einen jungen Christ bestärken, mutig Lebensentscheidungen zu fällen?
Ich würde sie ermutigen: Sei immer risikofreudig, und vertrau einfach, dass die Liebe Jesus dich nie verlässt und dich befähigen wird, alles zu tun. Je grösser die Berge, besonders diejenigen, die uns unbezwingbar erscheinen, umso mehr Freude und Erfüllung werden sie dir geben, wenn du die Herausforderung packst. Dann ist es absolut notwendig, dass du deine Beziehung zu Jesus und seinem Bibelwort lebendig hältst. Und erwarte immer grosse Dinge! Andere werden sagen, dass du dies oder jenes nie tun kannst, aber du hast unseren Herrn an der Seite und so vermagst du alles.
Wo möchten Sie uns als Europäer bezüglich Versöhnung leben herausfordern?
Ich möchte uns herausfordern, dass wir nicht einfach an unseren verschiedenen Denominationen festkleben und ihre Unterschiede betonen, sondern ‒ wie wir es in der verfolgten Kirche tun ‒ einfach vereint als Kinder des Messias zu leben. Wir alle sollten dem einen Gesalbten Gottes folgen. Wir sollten die lieben, welche die Welt nicht liebt. Wir sollten uns zu denen stellen, welche ausgegrenzt und ihrer Sicherheit beraubt wurden. Wir sind berufen, die Menschen, welche kein Land mehr haben, ins verheissene Land mitzunehmen, wo auch immer dieses ist.
Wo sehen Sie Neuland, das der Heilige Geist für uns als Christen und Kirchen öffnet?
Nochmals möchte ich betonen, dass wir gerufen sind, mutige Risikoträger zu sein. Dass wir an die Orte gehen, wo andere Angst haben. Wir sollten innehalten und uns fragen: «Wovor habe ich Angst?» Vielleicht ist genau das der Ort, wo wir hin gerufen werden.
Beten Sie für Europa?
Ja, ich bete für Europa. Ich bete darum, dass Europa seine Augen öffnet und die Realität erkennt für seine Berufung, eine Völkergemeinschaft zu sein, in der man immer zuerst den anderen sieht.
Zur Anmeldung:
Explo 2017
Vom 29. Dezember 2017 bis am 1. Januar 2018 findet in der Messe Luzern die bereits achte Explo statt. Dem Einzelnen haben die früheren Konferenzen einmalige Begegnungen, neue Visionen, sowie neues Feuer im Glauben gebracht; entstanden sind daraus auch zahlreiche Initiativen und Projekte. Für dieses Jahr wurden wiederum gewinnende Referenten und Referentinnen aufgeboten.
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Datum: 01.11.2017
Autor: Rachel Stoessel
Quelle: Campus für Christus Schweiz