Hunger, Hoffnung und Heil

Joseph Kim: Wie er auf der Flucht Hoffnung fand

Mit nur 16 Jahren entscheidet sich der Halbwaise und Strassenjunge Joseph Kim aus Nordkorea, nach China zu fliehen, um dem Hungertod zu entgehen. Doch dort ist alles noch viel schwieriger. Bis er mit einem Mal jemanden trifft, der seine Hoffnungslosigkeit versteht und ihm seine Lasten abnimmt...
Joseph Kim

Ich vermute, dass man in gewisser Weise in Nordkorea ähnlich aufwächst wie an anderen Orten. Ich hatte einen Vater und eine Mutter, die mich liebten und meine ältere Schwester passte immer auf mich auf. Gemeinsam mit Freunden fingen wir Libellen und freuten uns auf die Zeichentrickserien im Fernsehen. Doch als das Land 1995 von einer schlimmen Hungernot heimgesucht wurde, veränderte sich alles...

Als ich zwölf war, starb mein Vater vor Hunger und unser Haus wurde aufgrund von Schulden gepfändet. In demselben Jahr flohen meine Mutter und meine Schwester nach China, um dort nach Geld und Essen zu suchen. Sie versprachen, in wenigen Monaten wiederzukommen. Doch meine Mutter kam allein wieder – sie hatte meine Schwester in China in den Sex-Handel verkauft. Kurz darauf wurde meine Mutter beim Überqueren der chinesischen Grenze festgenommen und kam ins Gefängnis.

Die Entscheidung: Tod oder Flucht?

Mit einem Mal war ich Waise, Obdachloser und Bettler. Wenn ich mich Menschen in Restaurants näherte, fuchtelten sie, als würden sie eine Fliege verscheuchen. Mit 15 fasste ich dann die Entscheidung: Ich konnte entweder vor Hunger sterben wie mein Vater, oder ich konnte das Land verlassen und ein besseres Leben suchen. Auch wenn die Flucht gefährlich war, gab es doch eine gewisse Chance, zu überleben. Und die Hoffnung liess mich am Leben.

Meine Flucht war für Februar 2006 geplant. Es war ein Wunder, dass ich es schaffte. Doch ich floh voller Hoffnung. Ich war mir sicher, dass es nicht schwer sein würde, in China Essen zu finden. Sicher würden mir chinesische Familien ihre Essensreste geben; eine Schüssel voll Reis war doch nichts für sie. Doch kaum war ich in China, holte mich die Realität ein. Fast niemand gab mir etwas. Allein die Frage danach verärgerte sie. Das war nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Wochenlang kämpfte ich ums Überleben.

Eines Tages kam eine ältere Frau auf mich zu. «Es tut mir leid, ich kann dir nichts anbieten – aber du solltest in eine Kirche gehen!» Sie sagte mir, ich sollte nach einem Gebäude mit einem Kreuz suchen. Kreuze hatte ich in Nordkorea nur an Krankenhäusern gesehen. Was hatten sie mit der Kirche zu tun? In meiner Kindheit hatte ich nichts über Religion, geschweige denn Gott und Jesus gehört.

Trotzdem suchte ich nach einem Kreuz – doch ich fand keins. Ich fragte einen Mann: «Wo kann ich ein Kreuz finden?» Und er antwortete mir: «Schau hoch!» Und da war das Kreuz. Es war das erste Mal, dass ich in eine Kirche ging. Ein paar Männer standen herum und ich bat sie um Hilfe. Einer von ihnen gab mir 20 Yuan (etwa 3 USD) und sagte mir, das sei alles, was er entbehren könne.

«Gib mir deine Hand, dann kümmere ich mich um dich»

Von dieser chinesischen Kleinstadt schlug ich mich nach Tumen durch. Auch hier suchte ich nach einer Kirche. Ich fand eine – an der Aussenwand stand geschrieben: «Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken!» Es war, als würde jemand direkt zu mir reden. Ich dachte, ich hörte eine Stimme die sagt: «Ich verstehe, wie erschöpft du bist und wie hoffnungslos deine Situation ist. Gib mir deine Hand, dann kümmere ich mich um dich.» Eine Frau, es war die Frau des Pastors, begrüsste mich mit einem Lächeln und fragte, wie sie mir helfen könne. Sie gab mir 50 Yuan (8 USD) und wünschte mir viel Glück. Das war die grösste Menge an Bargeld, die ich je in den Händen gehalten hatte. Als ich wenige Tage später zurückkam, bot man mir an, in der Gemeinde zu wohnen. Zum ersten Mal seit Jahren bekam ich wieder eine regelmässige Mahlzeit.

Wenig später hörte ich Gemeindeglieder darüber reden, dass der Pastor zum Zahnarzt musste, aber kein Geld dafür hatte. Mit einem Mal verstand ich, wieviel Geld die 50 Yuan für die Pastorenfamilie bedeutet hatten. Die Grosszügigkeit der Pastorenfrau weckte meine Neugier: Sie sah aus wie die Menschen, die mir ihre Essensreste verweigert hatten, und doch war sie so anders. Ich begann, die Bibel zu lesen, um zu verstehen, was diese Menschen glaubten. Doch obwohl ich mehr über Gott lernen wollte, verstand ich nichts. Die schwierigen Worte, das Konzept von Himmel und Hölle, das alles machte für mich keinen Sinn.

Ein neuer Name, eine neue Hoffnung

Wenig später nahm mich eine koreanische Christin auf, eine ältere Dame. Ich nannte sie «Grandma», Grossmutter. Sie ermutigte mich, weiter in der Bibel zu lesen, und brachte mir Choräle bei. Und sie gab mir einen neuen Namen: Joseph. Den ersten Choral, den sie mir am ersten Abend beibrachte, hatte folgende Worte: «Vater, ich strecke meine Hände nach dir aus. Niemand anders kann mir helfen. Wenn du dich von mir entfernst, wo sollte ich dann hingehen?» Obwohl ich nicht wusste, wie man betete, tat ich das am ersten Abend bei Grandma: «Gott, ich weiss nicht, wer du bist, oder ob du überhaupt existierst, wie es die Bibel und die Christen behaupten. Aber ich brauch deine Hilfe!»

Ich blieb einige Monate bei Grandma, dann half mir ein Aktivist, mich als Flüchtling in die USA zu bringen. 2007 kam ich dort an, wurde in einer Pflegefamilie untergebracht und begann, zur Highschool zu gehen – obwohl ich kein Wort Englisch sprach. Die Menge an kulturellen Unterschieden und die unbekannte Freiheit waren fast zu viel für mich. Doch ich schaffte es, in vier Jahren den Abschluss zu machen. Jetzt studiere ich an der Uni von New York City und gehe regelmässig in eine Kirche in Manhatten, um mehr über Gott und seine Welt zu lernen.

Die Schönheit des Evangeliums

Die Worte des Chorals, den Grandma mir an dem ersten Abend beigebracht hatte, drückten das aus, was mein Herz gefühlt hatte, als ich nach China kam. Ich war ganz allein in der Welt gewesen. Jederzeit hätten mich Beamte festnehmen und nach Nordkorea zurückschicken können. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass sich niemand um mich kümmerte, niemand mir half. Was wäre passiert, wenn Gott sich auch von mir abgewandt hätte?

Aber was war Gottes Hilfe? Waren es nicht die Kirchen, die mir Zuflucht gewährten oder die Frau, die mir die 50 Yuan gab, obwohl sie sie selbst so dringend benötigte? Oder die alte Christin, die mir einen neuen Namen gab? Als ich nach China kam, verlor ich die Hoffnung in menschliche Güte. Doch durch die Christen fand ich die Hoffnung wieder. Sie kümmerten sich voller Mitleid um Fremde, ohne etwas im Gegenzug zu erwarten. Das ist das Schöne der Menschheit, das ist die Schönheit des Evangeliums.

In seinem Buch «Under the same sky: From Starvation in North Korea to Salvation in America» (Unter demselben Himmel: Vom Hunger in Nordkorea zur Rettung in Amerika) beschreibt Joseph Kim seine Geschichte ausführlich.

Zum Thema:
Aus Nordkorea geflohen: Auf der Suche nach Essen fand meine Seele Nahrung 
Hea Woo aus Nordkorea (Teil 2) - Gesichter der Verfolgung
Nordkorea: Christliche Flüchtlinge: Lieber tot als im Lager

Datum: 03.07.2015
Autor: Rebekka Schmidt
Quelle: Livenet / Christianity Today

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