«Ich hoffe, dass Gott mich nicht auf meine Tat reduziert»
Gott vergibt. Das ist eine der Grundannahmen des christlichen Glaubens. Doch was ist, wenn es um mehr als eine nicht zurückgegebene Bohrmaschine geht? Wenn die Schuld unendlich gross scheint? Wenn sie nicht wieder gutzumachen ist? Wie soll die Gesellschaft Täter behandeln, die Schuld auf sich geladen haben und sie bereuen? Wie können Kirchen und Gemeinden damit umgehen, dass auch sogenannte Christen schuldig werden? Und wie schaffen es Täter und Betroffene, Gottes Vergebung zu akzeptieren?
Die Frage nach dem Warum
R. hat seine Frau umgebracht. Er betont, dass sie damals massive Probleme hatten. Ein gescheitertes Immobilienprojekt im Osten hatte sie als Familie finanziell ruiniert. Dazu kamen Affären mit anderen Frauen. Der Kirchenmusiker und Professor wusste nicht, wie er seiner Frau dieses finanzielle und persönliche Desaster beibringen sollte. Als der Druck immer grösser wurde – Schuld, Schulden, Schande und Verzweiflung –, hielt er den Tod für die einzige Lösung. Er erstach seine Frau und wollte sich selbst umbringen. «Dafür gibt es keine Worte. Es geschah in einem Moment, in dem ich nur noch schwarze Wolken über uns sah. Es war kein Ausweg mehr, ich war tief verstrickt in schuldhaftes Verhalten und Probleme, ich sah mich in einem Tunnel ohne Umkehr.» Er selbst lebt nur noch, weil er sich von seiner Tochter verabschieden wollte. Er rief sie an, gestand ihr alles. Sie hielt ihn vom Selbstmord ab: «Ich brauche dich, du bist mein lieber Papa.« Daraufhin stellte er sich der Polizei.
Die Frage nach der Schuld
An der Schuld von R. gibt es nichts zu beschönigen. Trotzdem traf es ihn hart, dass er bei der Urteilsbegründung als Versager bezeichnet wurde – eine Äusserung, die die Presse für den Kirchenmenschen gerne aufnahm. Er selbst weiss: «Es ist furchtbar, es ist irreparabel, was ich getan habe. Ich lebe, aber ich habe meiner Frau diese Chance nicht gegeben. Ihr Tod ist meine Schuld, mit der ich lebe.»
Die Frage nach Vergangenheit und Zukunft
Hätte er nicht anders handeln können? Hilfe in Anspruch nehmen können? Ja. Im Rückblick sieht der Musiker: «Es ist verrückt, in meinem engsten Freundeskreis waren Menschen, die mir auf ihre Weise hätten helfen können, aber ich habe aus falschem Stolz und Scham nichts von meinen Schwierigkeiten erzählt.» Gefragt, wie er seine Zukunft sieht, die Zeit nach der Haft, wenn er als über 70-Jähriger wieder in Freiheit leben darf, antwortet er: «Was dann ist, weiss ich nicht. Ich denke an heute. Was mache ich aus dem heutigen Tag? Hier muss ich mich jeden Tag meiner Tat stellen.»
Die Frage nach Gott
Wie kann man diese Schuld bewältigen, wird R. gefragt. «Gar nicht», stellt er klar. «Aber man ist mit seiner Tat und seiner Schuld hier nicht allein, eine Handvoll Menschen begleiten einen.» Die erste Zeit im Gefängnis arbeitete er in der Bücherei und der Wäscherei. Mit Musik, vielleicht sogar Kirchenmusik, wollte er nie wieder etwas zu tun haben.
«Ich hatte gedacht, Gott hat mich verlassen.» Doch als er im Obergeschoss der Gefängniskirche ein Klavier entdeckte, konnte er nicht widerstehen. Zunächst spielte er nur für sich, aber dann fragten andere, ob er mit ihnen einen Chor aufbauen würde. Er zögerte, schliesslich stimmte er zu. Inzwischen singen sie regelmässig: «Es ist schon sehr speziell, wenn afrikanische Christen mit arabischen Muslimen und einem Punk-Sänger 'Ein feste Burg ist unser Gott' singen.» Hauptsächlich singen sie aber Gospels und Spirituals – und zwar ziemlich gut. Und sie werden von der Musik angerührt, selbst wenn sie nicht darüber reden.
Die Frage der Vergebung
Vergebung ist ein grosses Thema für R. Er schrieb den Geschwistern seiner Frau einen Brief und bat sie darum – bisher ohne Antwort. Damit hatte er gerechnet, doch es war ihm wichtig «zu erkennen und auszusprechen, dass ich vor allem meiner Frau und meiner Tochter unsagbare Schmerzen zugefügt habe. Gegen dieses Eingeständnis hatte ich mich anfangs gesträubt. Um die drei oder vier Sätze in diesem Brief habe ich lange gerungen». Der gebrochene Mann ergänzt: «Ich hoffe, dass Gott mich nicht auf meine Tat reduziert.» Sich selbst vergeben kann er (noch) nicht. «Ausgeschlossen», hält er fest. «Das geht nicht, ich kann mir nicht selbst vergeben, auch nach den fast sieben Jahren in Strafhaft nicht. Wenn meine Tochter eines Tages sagen könnte, Papa, ich vergebe dir, dann wäre es gut.»
«Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.» (1. Johannes 1,9)
Datum: 09.11.2014
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Bayerisches Sonntagsblatt