Einen schlafenden Riesen wecken
Livenet: Thomas Bucher, Sie haben die EEA bereits seit Januar 2013
interimistisch geleitet. Was hat Sie motiviert, sich definitiv für die
Leitungsaufgabe zu entscheiden?
Thomas Bucher: In meinem Leben bin ich immer wieder in Situationen
geraten, wo es zuzupacken galt. Oft waren es Krisensituationen, wo
Leitung gefragt war, um die Entwicklung einer Vision und Strategie und
die dazugehörenden Prozesse und Strukturen vorwärtszubringen. Die EEA
ist an einem solchen Punkt.
Nach zehn Jahren in der europäischen Leitung von OM («Operation Mobilisation») und dem Abschluss von einigen gewichtigen Projekten hatte ich seit einiger Zeit den Eindruck, dass meine OM-Aufgabe ein Ablaufdatum hatte. So war ich innerlich auf eine Veränderung eingestellt. Überrascht war ich, dass es diese EEA-Rolle sein sollte. Aber der Zeitpunkt war richtig.
Wie stellt sich die EEA heute dar? Wo liegen die Chancen?
Für mich ist die EEA ein «schlafender Riese». Es gibt in den nationalen
Allianzen viele Initiativen, Ideen und grosse Kompetenzen. Vieles ist
aber nicht über die nationalen Grenzen hinaus bekannt. Da liegt ein
ungeheures Potential, das füreinander und damit auch für die Gemeinden
in Europa zugänglich gemacht werden kann.
Wo ist aktuell besonders viel in Bewegung?
Bewegung, die auch öffentlich wahrgenommen wird, sehe ich im Netzwerk gegen den Menschenhandel
und in der EEA-Arbeit in Brüssel, wo im Juni von den EU-Aussenministern
neue Leitlinien zur Religionsfreiheit verabschiedet wurden, die der
EEA-Delegierte wesentlich mitgestaltet hat.
Die grosse Chance sehe ich darin begründet, dass die Allianz von der Gemeindeebene zur nationalen und europäischen bis hin zur Weltebene durchgängig vertreten ist und auch wahrgenommen wird.
Was sind mittelfristig die grossen Herausforderungen für die EEA?
Matthias Spiess, Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen
Allianz, hat das Bild des Parketts geprägt. Die EEA sehe ich ebenfalls
als genau das und nicht als Dachorganisation. Zurzeit besteht meine
Hauptaufgabe darin, dieses Parkett für das zu nutzen, wozu es wirklich
geschaffen worden ist. Die verschiedenen Akteure sollen sich begegnen
und einen regen Austausch von Ideen, Projekten und Initiativen pflegen.
Es sollen auch gemeinsame Aktionen entstehen und gleichzeitig die
europäische Ebene mit ihrem besonderen Beitrag wirkungsvoller werden.
Dafür braucht es gut funktionierende Strukturen und Prozesse. Die sind
jetzt am Entstehen.
Welche Dynamik haben die in den letzten Jahren neu aufgenommenen Länderallianzen in die EEA gebracht?
Da ist leider in den letzten vier Jahren wegen Vakanzen und personellen
Veränderungen nicht sehr viel passiert. Für mich gilt es nun, vor allem
die zentral- und osteuropäischen Allianzen so zu integrieren, dass sie
ihre Besonderheiten mehr einbringen können und so die EEA bereichert
wird.
Wohin möchten Sie die EEA führen?
Eine der Schlüssel-Bibelstellen für die EEA ist für mich Lukas Kapitel
4, Verse 17-21*. Diese Vision des Reiches Gottes ist zentral. Wenn
Christen in Europa wieder im guten Sinne prägend sein wollen, dann geht
das nur über einen ganzheitlichen Ansatz. Er muss alle Lebensbereiche
berühren, und er muss glaubhaft zeigen, dass Gott ein Gott ist, der sich
um die Bedürftigen kümmert. Das schliesst für mich selbstverständlich
die geistliche Bedürftigkeit ein.
Dann möchte ich Leiter stärken, damit sie dieser Aufgabe gerecht werden können. Kleine nationale Allianzen sollen so unterstützt werden, damit sie die Bedürfnisse der Gemeinden und Organisationen in ihrem Land abdecken können. Und durch die Vernetzung auf europäischer Ebene sollen Synergien entstehen, die zusätzlichen Schub verleihen.
Hat die EEA nachhaltigen Einfluss innerhalb der EU? Hat sie in Brüssel eine Stimme?
Die EEA ist mit ihrer Stelle in Brüssel sehr gut positioniert, um auch
auf europäischer Ebene Einfluss zu nehmen. Es geht dort aber nicht
darum, Machtpositionen aufzubauen, sondern im Rahmen unserer
Möglichkeiten die Stimme der allianznahen Christen zu aktuellen Themen
einzubringen und Meinungsbildung und Gesetzgebung mitzugestalten.
Was sind denn wichtige Themen für die europäische Allianz?
Wichtige Themen für die christliche Gemeinde in Europa und damit für die
Evangelische Allianz sind unter anderen Gemeindebau und -gründung unter
besonderer Berücksichtigung der demografischen Entwicklung, neue Formen
der Evangelisation, ein neues Selbstverständnis in einem immer
säkulareren Umfeld (wie bringen wir uns ein?), Menschenhandel, Migranten
inkl. der vielen Migrantengemeinden.
Was bringt uns die Zukunft?
Ich wäre nicht verwundert, wenn es in den nächsten Jahren einige
Turbulenzen auf der wirtschaftlichen Ebene geben würde. Das wird einen
Domino-Effekt im sozialen Bereich zur Folge haben. Damit werden sich
vermehrt auch wieder klassische Felder der christlichen Nächstenliebe
öffnen. Als Menschen, die von der Auferstehung von Jesus her leben,
können wir jetzt und dann Zeichen der Hoffnung setzen und damit
das Reich Gottes bauen.
Zur Person: Thomas Bucher
Der 57-jährige Zürcher ist am 9. Oktober in den Niederlanden zum neuen Generalsekretär der Europäischen Evangelischen Allianz (EEA) gewählt worden, Bucher hat die Allianz bereits seit Januar 2013 interimistisch geleitet. Von 2002 bis 2008 präsidierte er die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA). «Seine festen christlichen Überzeugungen, seine hohen sozialen Fähigkeiten und die Bereitschaft zu einer breiten Zusammenarbeit» seien ausgezeichnete Voraussetzungen für die herausfordernde Tätigkeit des grossen evangelischen Dachverbands, schreibt die SEA. Die EEA vertritt nach eigenen Angaben rund 15 Millionen evangelische Christen in 35 Ländern.
*Die Bibel, Lukasevangelium, Kapitel 4, Verse 17-21: «Man reichte ihm die Schriftrolle des Propheten Jesaja, und als er sie aufrollte, fand er die Stelle, an der steht: 'Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt, um den Armen die gute Botschaft zu verkünden. Er hat mich gesandt, Gefangenen zu verkünden, dass sie freigelassen werden, Blinden, dass sie sehen werden, Unterdrückten, dass sie befreit werden und dass die Zeit der Gnade des Herrn gekommen ist.' Er rollte die Schriftrolle zusammen, gab sie dem Synagogendiener zurück und setzte sich. Alle in der Synagoge sahen ihn an. Und er sagte: 'Heute ist dieses Wort vor euren Augen und Ohren Wirklichkeit geworden!'»
Datum: 31.10.2013
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Idea / Livenet