«Liebeslust» – Sexualität unverschämt und echt geniessen
Mit der Veröffentlichung ihres Buchs «Liebeslust» beweist die 54-jährige Sozialpädagogin und Sexualberaterin Veronika Schmidt viel Mut. Nach über 30 Jahren beruflichem Engagement mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern, seit 15 Jahren als systemische Beraterin, wagte sie den Schritt, ohne Tabu über die schönste Nebensache der Welt zu schreiben. Vor allem für Christen sei Sex ein ganz wichtiges Thema, das dringend enttabuisiert werden müsse, ist die Mutter von vier erwachsenen Kindern überzeugt.
Provokateurin oder Heilsbringerin?
Veronika Schmidt ist es aus ihrer Beratungstätigkeit gewohnt, ohne Zensur über sexuelle Erfahrungen zu sprechen. Bereits der Titel dieses Artikels – selbstverständlich ein Auszug aus dem Buch – lässt erahnen, wie schonungslos ehrlich sie dies tut. Damit löst sie natürlich einige Reaktionen vor allem im Umfeld christlicher Gemeinden aus. Für die einen ist sie eine Provokateurin, die zu einem unmoralischen Leben verführt, für die anderen ist sie eine Heilsbringerin, die endlich das einengende moralische Korsett aufbricht.
Dies hätten auch erste Reaktionen bestätigt, sagt die Autorin auf Anfrage von Livenet: «Ich bekam im Vorfeld schon einige Reaktionen, auch auf meinen Blog www.liebesbegehren.ch. Interessant ist zu beobachten, wer wie reagiert. Während Frauen und auch Paare allgemein froh sind, dass gewisse Tabus von einer christlichen Therapeutin gebrochen werden, zum Beispiel das Thema Selbsterfahrung und Selbstbefriedigung, reagieren männliche Leiter von Gemeinden oft nervös. Da kommen schon Vorwürfe wie 'Was fällt Ihnen ein?', 'Wer sind Sie überhaupt?' Auf Verantwortungsebene ist eine gewisse Angst spürbar, weil ich das Thema auch aus Sicht der Bibel anspreche.»
Diese abwehrende Haltung von geistlichen Leitern bedauert Veronika Schmidt. Sie habe das Buch nicht geschrieben, um zu provozieren, sondern um Lebenshilfe anzubieten. Gott habe ihr aufs Herz gelegt, dies anzusprechen. Sie sehe in Ihrer Beratungstätigkeit einfach die Not der Paare mit ihrer Sexualität. Sie wolle daher vor allem sexologisches Wissen vermitteln und dabei Geistliches und Fachliches zusammenbringen. Die Kirchenleiter ruft sie auf, dieses Wissen zu nutzen: «Redet doch über Sex und wie Beziehungen gelingen, weniger über moralische Fragen und das unselige 'kein Sex vor der Ehe'. Sex ist etwas Sinnliches und gerade das Buch Hohelied der Bibel macht deutlich, dass Gott diesen lustvollen Zugang zur Sexualität erfunden hat.»
Der Schlüssel ist die Frau
In ihrem Buch zeigt Veronika Schmidt, dass Sexualität lernbar ist. Eine Schlüsselrolle für befriedigenden Paarsex kommt der Frau zu, ist die Sexualberaterin überzeugt. Es sei wichtig, dass sie sich selbst als begehrend sehen und sich darin wohlfühlen. Hier ein Auszug aus dem Buch:
Die Botschaft dieses Buches ist auch: Die Frau kann lernen, Lust zu empfinden und Sex als erfüllend zu erleben. Wenn eine Frau Sex kennt, Sex «kann», Sex geniesst, in der Sexualität aktiv Lust empfindet, ist die Tür geöffnet für erfüllenden Paarsex. Das ist für viele Frauen revolutionär, faszinierend und zugleich beängstigend. Weil das heisst, dass sie für ihre Lust eigenverantwortlich die Initiative ergreifen sollen. Die Frau soll auffordern, sie soll «gelüsten», sie soll geniessen. (Liebeslust, S. 21)
Für Veronika Schmidt gehört die Selbsterfahrung ganz selbstverständlich dazu. Schöner Paarsex sei erst dadurch möglich, dass man sich selbst gerne berührt und sich selbst sexuell begehrenswert und erotisch erlebt. Es brauche eine gewisse «Geilheit».
Aufruf zu sexueller Freizügigkeit?
Der christliche Verlag SCM hat zum Buch der Schweizer Sexualberaterin extra eine Webseite gestaltet. «Kunst des Liebens – wenn Sex Spass macht». Diese gibt einen Vorgeschmack zu den erotischen Bildern, mit denen das Buch illustriert wird. Diese Fotos von christlichen Paaren hätten bereits Anlass für Proteste gegeben, erklärt Veronika Schmidt. Sie selbst nimmt auf der Webseite zum Vorwurf, solche Darstellungen seien pornografisch, Stellung: «Manche Menschen denken, weil das Buch Bilder hat, sei es per se pornografisch. Die Bilder sind aber nicht pornografisch. Sie bilden schöne Nacktheit ab. Sie sprechen die Sinne an. Ich sage immer: Du weisst, ob es Porno ist, wenn du es siehst. Bei Porno geht es um übermässig zur Schau gestellte Geschlechtsteile und deutlich erniedrigende sexuelle Darstellungen von Frauen oder sogar Kindern. Erotische Bilder dagegen sprechen die Sinne an. Sie zeigen mehr als nur Haut. Sie wecken Freude an der Sexualität. Generell muss man sagen, dass die genauen Grenzen für das Anschauen von sexuell anregenden Bildern für den Einzelnen vielleicht fliessend sind. Jeder hat da eine persönliche Verantwortung, die er oder sie auch wahrnehmen sollte.»
Sie wolle nicht zu sexueller Freizügigkeit aufrufen, betont Veronika Schmidt im Gespräch mit Livenet. Aber sie wolle offen und ohne Scham darüber sprechen, wie Paare wieder lernen können, Erotik für sich zu entdecken und zu leben. Dabei beziehe sie auch ihren christlichen Glauben mit ein und zeige, wie schön und erotisch die Bibel Intimität beschreibt. «Das befreit von falscher Scham und macht Mut zu echter Lust auf Zweisamkeit», glaubt die Autorin.
Auch der Verlag SCM rechtfertigt die Publikation des Buches mit dieser Argumentation: «Warum entscheidet sich ein Verlag dazu, ein Buch über Sexualität herauszubringen? Noch dazu ein Buch, das Themen wie Selbstbefriedigung, sexuelle Erregung und die Frage 'Wie wird man ein guter Liebhaber/eine gute Liebhaberin?' so offen anspricht? Ganz einfach: Weil Sexualität in christlichen Gemeinden nach wie vor ein grosses Tabuthema ist. Und das, obwohl die Autorin durch ihre Arbeit als Familien- und Sexualberaterin tagtäglich mit dem Frust und den vielen offenen Fragen von betroffenen Paaren konfrontiert wird.» Der Verlag SCM ist überzeugt, dass das Buch «Liebeslust» das Liebesleben von christlichen Ehepaaren revolutionieren wird.
Sex-Serie im ICF gab den Anstoss
Den eigentlichen Anstoss für das Buchprojekt «Liebeslust» gab die Predigtreihe «Let's love one another» im ICF Schaffhausen im Frühling 2014 (Livenet berichtete). In dieser Serie wurden theologische Aspekte, gelehrt durch den damaligen ICF-Pastor Christian Gfeller, und sexologisch-fachliche Aspekte, eingebracht von Veronika Schmidt, miteinander kombiniert. Dies habe ihr sehr viel Spass gemacht, sagt sie im Rückblick. Und es habe sie motiviert, die Themen in einem Buch christlichen Paaren zu vermitteln. «Leute verzweifeln oft an ihrer Sexualität», stellt Veronika Schmidt bei ihrer Beratungstätigkeit immer wieder fest. «Sie fragen dann oft, wieso der Sex nicht so wahnsinnig toll sei, wie sie es sich vorgestellt haben. Die Antwort ist: weil sie relativ wenig darüber wissen. Und bei Christen kommt hinzu, dass die Moralvorstellungen der Kirche einen lustvollen Umgang mit Sex oft hemmen», so Schmidt.
Den christlichen Paaren, sagt die Sexualberaterin abschliessend, könne meist sehr einfach geholfen werden, was sie an ihrem Beruf auch sehr glücklich mache. «Wenn Frauen und Männer - ja, auch Männer können noch viel dazu lernen - einen positiven Zugang zu ihrem Körper und der Sexualität bekommen können, dann ist es möglich, dass beim Sex eine Entwicklung geschieht.»
Zur Person:
Veronika Schmidt, Jahrgang 1961, hat Sozialpädagogik studiert. Sie ist Systemische Paar- und Familienberaterin sowie Sexualberaterin mit eigener Praxis (www.familienwerkstatt.ch). Sie lebt mit ihrem Mann in Schaffhausen/Schweiz und hat vier erwachsene Kinder.
Zum Buch:
Schweiz
Deutschland
Zur Webseite:
Webseite Verlag SCM zu «Die Kunst des Lieben»
Familienwerkstatt
Blog Liebesbegehren
Zum Thema:
Sexualethik in der Bibel: Was die Bibel wirklich zu ausserehelichem Sex sagt
Neue Leidenschaft: Frischer Wind im Schlafzimmer
Interview: «Frauen möchten begehrt werden»
Datum: 12.10.2015
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet