«So viele leiden heimlich unter ihrem pornografischen Kopfkino»
Livenet:
Tabea Freitag, im Herbst werden Sie als Gastreferentin an der Konferenz
«Porno-frei.ch» in Aarau auftreten. Was erhoffen Sie sich von dieser Tagung in
der Schweiz?
Tabea Freitag: Ich
teile und unterstütze gerne das Anliegen der Initiatoren, die zum Teil selbst
Hilfe in diesem Problemfeld anbieten, für die Folgen von Pornosucht zu
sensibilisieren. Denn solange das Thema tabu ist und die Folgen verschwiegen
werden, bleiben viele Betroffene und Angehörige damit allein. Zahlreiche
Partnerschaften zerrütten oder zerbrechen an dieser Sucht. Durch Prävention und
Intervention könnte manches Leid erspart bleiben.
Vor
fünf Jahren erhielten Sie den deutschen Gesundheitspreis einer grossen
Krankenkasse für Ihr Buch «Fit for Love?» überreicht. In diesem Buch befassen
Sie sich besonders mit den schädlichen Folgen von Pornokonsum und präventiven
Praxistools. Wo liegen denn die grössten Risiken beim Pornokonsum?
Zunächst einmal prägt
früher Pornokonsum ein Verständnis von Sexualität, das diese auf
eindimensionale Erregungssuche und narzisstische Bedürfnisbefriedigung
reduziert. Empathie und Wertschätzung des anderen werden ebenso ausgeklammert
wie die Bindungsdimension von Sexualität. Es bleibt eine Leere zurück, die
vielfach nach immer härteren Inhalten suchen lässt, um noch einen Kick zu
erleben. Brutale Gewalt und Demütigung von Frauen ist fester Bestandteil frei
zugänglicher Mainstream-Pornografie. Internationale Studien und therapeutische
Erfahrungen zeigen vor allem drei Folgen von häufigem Pornokonsum: eine hohe
Suchtgefährdung, die Förderung von sexueller Gewalt und eine Beeinträchtigung
der Beziehungsfähigkeit.
Ihr
Ziel mit dem Buch resp. Schulungsmaterial ist ja, das Thema ins Bewusstsein von
Eltern, Lehrkräften und Erziehenden zu bringen. Wie gelingt das bisher?
Die Nachfrage sowohl
nach dem Buch wie nach «Fit for Love?»-Schulungen ist weiterhin gross und nimmt
eher noch zu, da inzwischen das Bewusstsein schädlicher Folgen von frühem
Pornokonsum – zumindest bei pädagogischen Fachkräften – gewachsen ist.
Inzwischen haben vielfach schon 9-Jährige ein internetfähiges Smartphone und damit Zugang zu einschlägigen Seiten. Die Vorfälle von sexuellen Übergriffen unter Minderjährigen nach Pornokonsum nehmen zu und können nicht mehr so leicht verschwiegen und verharmlost werden wie noch vor fünf Jahren. Auf der anderen Seite nimmt aber eben auch die immer frühere und flächendeckendere Digitalisierung zu (insbesondere von Schulen) und verschärft das Problem weiter. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Selbst
die WHO hält in den neusten Richtlinien fest, dass Internetsexsucht gesundheitsschädigend
sei. Ist diese internationale Anerkennung des Problems für Sie eine Hilfe in
Ihren Bemühungen?
Das ist ein Meilenstein
und Durchbruch, der Betroffenen endlich auch den Zugang zu ambulanter und
stationärer Behandlung ermöglichen wird. Ende Mai 2019 hat die WHO die Aufnahme
der Diagnose «compulsive sexual behaviour disorder» in das internationale
Diagnosemanual ICD 11 beschlossen. Mit den klassischen Suchtkriterien fällt darunter auch die Internet-Sexsucht. Die
Notwendigkeit der Suchtprävention bezüglich des Suchtmittels Pornografie kann
nun nicht länger geleugnet werden.
Christen
sind ja ebenfalls nicht vor dieser Falle der Internetsucht gefeit. Man hört und
liest von Statistiken, dass auch viele Christen mit der Pornosucht zu kämpfen
haben. Würden Sie mit Ihrem Hintergrund in der Beratung sagen, dass Christen
eher von dieser Sucht frei werden können?
Das hängt vom
persönlichen Glaubensleben und Gottesbild ab, ob der Glaube eher Hilfe zum
Ausstieg oder sogar Stütze der Sucht sein kann. Wenn jemand 20 Jahre lang
sowohl von Gott wie von der Partnerin erwartet, dass beide ja «eh vergeben»
(müssen), kann das verhindern, endlich Verantwortung für sich und für die
Verletzung des betrogenen Partners zu übernehmen. Andererseits, wer ernst nimmt
und persönlich erlebt hat, dass Gott Licht und Wahrheit ist, zugleich
barmherzig und gerecht, kann und will damit ins Licht kommen, ehrlich werden
und lieben lernen. Zudem weiss er um eine lebendige Quelle, die den Lebensdurst
tiefer und nachhaltiger stillen kann. Die Schritte aus der Sucht müssen
trotzdem gegangen werden.
Was
empfehlen Sie den Gemeindeleitungen und Pastoren, wie Sie das Thema
«Pornosucht» thematisieren sollen?
Vor allem:
thematisieren! So viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene leiden heimlich unter
der Macht der Bilder und ihrem pornografischen Kopfkino, finden aber keinen
Ansatz, darüber zu reden und sich Hilfe zu holen. Darum müssen wir ihnen
Brücken bauen – auf gesichtswahrende, wertschätzende Weise Pornografie zum
Thema machen. In der Prävention erleben wir oft, dass coole Teenager sich
bedanken, dass endlich jemand das Thema anspricht und ihnen hilft, die
ambivalenten Gefühle und den ungeheuren Sog zu verstehen und eine eigene,
begründete Position dazu zu entwickeln. Dazu hilft auch, Sexualität in ihrem
Sinnzusammenhang, ihrer körperlichen, psychischen und Bindungsdimension zu
verstehen, um sich eine eigene Entdeckungsreise zu Liebe und Sexualität nicht
durch vorgefertigte Schablonen stehlen zu lassen. Natürlich sollte es Thema in
jedem Jugendkreis sein, aber auch bisweilen in herausfordernden Predigten.
Zudem braucht es geschützte Räume wie Männer- und Frauengruppen, Seelsorge und
Zweierschaften. Auch Frauen sind zunehmend betroffen von einer Porno- oder
Cybersexsucht, oder sie leiden als Partnerin unter den Folgen, darum ist es
wichtig, nicht nur Männer anzusprechen.
Infos & Anmeldung Konferenz «Porno-frei.ch»
Zur Webseite:
Porno-frei.ch
Zum Livenet-Talk: Porno Frei
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Datum: 19.06.2019
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet