Die zwei Hälften des Lebens
Während der ersten Hälfte des Lebens besteht die geistliche Aufgabe des Menschen darin, ein geeignetes Gefäss für sein Leben zu schaffen. Dafür sucht er Antworten auf zentrale Fragen wie: «Wer bin ich?», «Was zeichnet mich aus?», «Wie kann ich mich dabei unterstützen?» und «Wer geht mit mir?» Die Aufgabe der zweiten Lebenshälfte ist es primär, Inhalte zu finden, die das Gefäss bestimmungsgemäss enthalten und weitergeben kann. Anders ausgedrückt: Das Gefäss ist für die Inhalte da.
Schweiss und Herzblut
Das Problem dabei ist, dass die erste Aufgabe uns so viel an Herzblut, Zeit und Tränen abverlangt, dass wir uns oft gar nicht vorstellen können, dass noch eine zweite Aufgabe folgen oder noch mehr von uns erwartet werden könnte. Wir halten die alten Weinschläuche für ausreichend, auch wenn sie laut Jesus den neuen Wein oft nicht halten können und dann zusammen mit dem Wein verloren gehen (Lukas 5,37). Die zweite Hälfte des Lebens kann dann «neuen Wein» aufnehmen, wenn wir bis dahin neue Gefässe haben, die veränderlich und dehnbar sind, und bereit dazu, ihre bisherigen Inhalte zu ersetzen. Das sorgt für Spannungen, aber auch für unsere Midlife-Freuden und neue Entdeckungen.
Gute Zäune schaffen gute Nachbarn
Die meisten Kulturen und Religionen beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Bearbeiten der Themen aus der ersten Lebenshälfte – mit den drei grossen Anliegen Identität, Sicherheit und Überleben. Doch diese dominieren uns nicht einfach, sie bestimmen unser Leben komplett. Rohr betont, dass die meisten Menschen bis heute das Bestimmen dieser Aufgaben und das Schaffen passender Strukturen dafür als wichtigste, wenn nicht einzige Aufgabe sehen. Ziel ist das Verteidigen der eigenen (Gruppen)Identität – und dabei lassen wir zu wenig Raum für Leben, Freundschaft und Gemeinschaft. Diese Art von Persönlichkeitsstruktur braucht ein Kind, brauchten frühere Stammeskulturen. Historisch gesehen war und ist dies für unser Überleben wichtig. Robert Frost beschreibt diesen Zustand mit: «Gute Zäune schaffen gute Nachbarn!» Er setzt aber voraus, dass sie nicht nur Zäune bauen – sie müssen auch bereit sein, diese zu überqueren.
Wir brauchen Grenzen, Identität, Sicherheit und einen gewissen Grad an Ordnung und Beständigkeit, um uns als Personen und Kulturen zu entwickeln. Wir müssen uns auch als «etwas Besonderes» sehen. Das heisst, wir brauchen Erfolge, Bestätigung, positives Feedback in frühen Jahren, sonst werden wir den Rest unseres Lebens damit verbringen, dies von anderen einzufordern. Dies ist eine Art «positiver Narzissmus». Zuerst brauchen wir ein gefestigtes Ego, um es dann loszulassen und weiterzugehen.
Mehr als Identität, Sicherheit und Überleben
Wer diesen Fixpunkt in sich selbst hat, der muss seine Identität nicht ständig beschützen, verteidigen, beweisen oder erklären. Sie ist einfach da – und das ist genug. Dieser Zustand ist das, was Rohr als «Rettung» bezeichnet. Wenn wir unser «Wer» geklärt haben, klären sich all die «Was»-Fragen praktisch von selbst. Allein die Tatsache, dass viele religiöse Menschen ihre Rettungs-Theorien immer wieder energisch darstellen müssen, lässt einen zweifeln, ob sie göttliche Erwählung in ihrer Tiefe wirklich erfahren haben.
In der ersten Lebenshälfte sind Erfolg, Sicherheit und Abgrenzung fast die einzigen Fragen. Es sind die unteren Stufen in der Maslow'schen Bedürfnispyramide. Wir alle brauchen Sicherheiten, Konstanten und Versicherungen in den verschiedenen Abschnitten unseres Lebens. Aber wir müssen aufpassen, dass sie uns nicht in Besitz nehmen, unser einziges Ziel werden und unser Wachstum verhindern. So ist eine der bekanntesten Aussagen der Bibel: «Hab keine Angst.» Aber wenn wir nicht hinausgehen über unseren ersten Antrieb von Sicherheit, Fortpflanzung und Überleben, werden wir in unserer geistlichen Entwicklung nie über die menschlichen Grundstufen hinauskommen.
Loslassen und Weitergeben
Das unglückliche Resultat dieses Besetztseins mit Ordnung, Kontrolle, Sicherheit, Vergnügen und Gewissheit ist es, dass eine grosse Zahl von Menschen nie bis zu den eigentlichen Inhalten gelangt – zu den eigentlichen Inhalten ihres Lebens! Menschliches Leben ist mehr als das Errichten von Grenzen, das Beschützen unserer Identitäten und das Kontrollieren unserer Triebe. Jesus sagte einmal: «Macht euch keine Sorgen um euren Lebensunterhalt, um Essen und Kleidung. Leben bedeutet mehr als Essen und Trinken, und der Mensch ist wichtiger als seine Kleidung.» (Lukas-Evangelium, Kapitel 12, Vers 23). «Denn was gewinnt ein Mensch, wenn ihm die ganze Welt zufällt, er selbst aber dabei Schaden nimmt? Er kann sein Leben ja nicht wieder zurückkaufen!» (Matthäus-Evangelium, Kapitel 16, Vers 26)
Richard Rohr (71) ist Franziskanerpater und Gründer des «Zentrums für Aktion und Kontemplation» in New Mexico/USA. Die obigen Gedanken stammen aus seiner Publikation «The Two Halves Of Life» (Die beiden Hälften des Lebens).
Datum: 05.02.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Patheos