Filmkritik: Corpus Christi

Aus der Gefängniskluft ins Priestergewand

Aufrüttelnd, beflügelnd: Der 20jährige Knastbruder Daniel möchte ein neues Leben beginnen und landet in der katholischen Kirchgemeinde eines polnischen Dorfes. Hingegen wird er nicht nur zum Mitbruder, sondern bekleidet sogleich das anspruchsvolle Amt des Priesters. Das Abenteuer zwischen Glück und Schmerz beginnt.
Szene aus dem Film Corpus Christi (Bild: iMDb)

Inspiriert durch wahre Begebenheiten werden die grossen Themen Versöhnung, Tod oder Liebe tiefgründig ausgelotet. Dabei bringt die direkte Art von Daniel viel Erfrischung in diesen Plot und ins Leben der Pfarrei. Er sagt Sachen wie: «Vergeben ist Lieben trotz Schuld» oder «Es ist nicht wichtig, woher man kommt, sondern wohin man geht».

So begleitet man diesen Ex-Häftling über 1,5 Stunden, wie er sein Bestes für seine Schafe gibt und dabei sein altes Leben mitschwingt.

Knast und Kirche

In dieser Spannung leben eigentlich alle Glaubenden: Ein möglichst gutes Leben mit Gott zu führen, trotz all dem menschlich Unperfekten und den Lasten, die sie mit sich tragen.

Auf einen Schlag findet sich der Zuschauer dieses oscarnominierten Streifens im Gefängnisalltag wieder; mitten in einer brutalen Misshandlungs-Szene.

Dann der Blick in die Messe hinter Mauern, wo der Priester sagt, dass die Leute keine Gebete mechanisch runterspulen sollen und wer gehen wolle, dürfe dies auch, denn Gott wäre auch beim Fussballspiel dabei. Dann singt die Hauptfigur Daniel den Psalm 23 in wunderschönster Weise – man spürt, da gibt’s mehr.

Der Ex-Knacki kann frühzeitig und auf Bewährung das Gefängnis verlassen, mit der Auflage: «Hände weg vom alten Leben und Lastern.» Aber der Protagonist hat Nachholbedarf… Willkommen im Alltag «Draussen».

Lieber Altar als Amboss

Statt sich beim Besitzer einer Werkstatt zu melden, zieht es ihn in die Kirche, und er setzt sich mal rein und betet. Seine Aussage, dass er Priester sei, ergeben die nächsten teils amüsanten Erlebnisse, wobei ihn der pausierende Geistliche als seinen Nachfolger vorschlägt. Und er schlägt ein.

Kurz darauf nimmt er schon die erste Beichte ab, mithilfe eines Ratgebers aus dem Internet, der ihm einen klaren katholischen Leitfaden vorgibt – in der einen Hand das Smartphone und ein Ohr beim Bekennenden im Beichtstuhl. Glück – oder Glaube? – gehabt; weil gerade die «Sünde des Rauchens» gebeichtet wird, worin er schliesslich Experte ist.

Und schon geht der Eiertanz los zwischen faszinierenden Priesterdiensten und dem Unbehagen, dass er nicht genügt und das ganze Rollenspiel auffliegen wird. Und dies in einem Dorf, wo man sich mit «Gelobt sei Gott» begrüsst.

Unter der Weihwasser-Dusche

Tanzend sieht man ihn sowieso ab und zu, wenn er wieder mal seinen Kopf lüften muss und dazu laut seine Techno-Musik hämmern lässt.

Bereits kommt die Stellvertretung für seine erste Heilige Messe, die er mit Bravour und einigen Schweisstropfen meistert – und die Gemeinde ist begeistert. Zuerst richtet Daniel einen Blick auf den gekreuzigten Jesus; und los geht’s.

Dann folgt vielleicht DAS beglückendste Highlight des ganzen Films. Es ist die Szene, wo sich der frischgebackene «Priester» selber eine Segensdusche verpasst, indem er zwei, dreimal die gefüllten Hände mit Weihwasser in die Höhe wirft und sich selber darunter stellt.

Wie auch diese Handlung ist vieles, das er mit Pfarrei-Mitgliedern zusammen macht, eine Therapie oder auch Hilfe für ihn selber. Hier bezeugt er, dass er selber diesen Segen und Unterstützung von Gott nötig hat. Und so springt seine Freude sichtlich auf die Gemeinde über.

Wo kein Gebet hinreicht

Vielleicht wurde er speziell für diese besondere Aufgabe an diesen kleinen Ort geführt? Er will den Angehörigen von sechs verunfallten Jungen helfen, ihre Verbitterung und schmerzende Trauer zu überwinden. Sie wollen nicht. Dennoch sind sie teilweise offen und lassen sich auf die sonderbaren Techniken des Jung-Priesters ein, wenn er sie beispielsweise zum Erspüren ihres Schmerzes auffordert: «Geht dorthin, wo kein Gebet hinreicht», und anschliessend sollen alle zusammen die Trauer wegbrüllen. Daniel selber ist mit seiner schreienden Seele an vorderster Front.

Kampf gegen Machtmissbrauch

Ein zweiter Hauptstrang des Streifens läuft mit dem hinterlistigen Bürgermeister, der ihm als Gegner das (Kirchen)Leben schwer macht. Macht ist seine Waffe, denn seine Position ist gefestigt – denkt er. Daniel wird dazu genötigt, einen Neubau seiner Firma zu segnen, schlägt zurück und lässt die ganze Gesellschaft Busse tun und festlich gekleidet in den Dreck knien. Der Chef sieht das anders, muss sich jedoch dem Gruppendruck beugen und auch zögerlich zu Boden gehn.

Strauss aus dunklen und bunten Blumen

Der junge Geistliche erleidet grösste Freude mit einem Baby in der Messe und intensivsten Schmerz mit einer sterbenden Frau – ihre kalte Hand haltend; und zwei feine Zeichen, wo ausgegrenzte Personen in die Dorfgemeinschaft hineinfinden. Daniel sei Dank!

Es konnte aber ja nicht ewig funktionieren, und so landet der Ex-Knacki und Priester wieder im Knast, wo ihn rohe Aggressivität der gröbsten Sorte erwartet. Der Filmschluss ist ein Hammer; aber wie genau, verraten wir nicht.

Kommentar

Bestimmt ist der Film nichts für Zartbesaitete, die nur das Behütete einer frommen Insider-Gemeinde kennen. Der knallharten Realität wird jedoch immer wieder die authentische, unkonventionelle Art und kindliche Frische Daniels gegenübergestellt.

Und für Personen, die das Echte suchen, das Aufbrechen festgesessener Traditionsstrukturen und sich von tiefgründigen Szenen berühren lassen wollen, ist er genau das Richtige.

Der Film läuft aktuell in diversen Schweizer Kinos. Details bei cineman.ch.

Hier sehen Sie den Trailer zum Film Corpus Christi:

 

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Datum: 17.09.2020
Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet

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