«Die Sprache des Glaubens war schon immer eine poetische»
Als Fachverantwortliche für Spiritualität und Lebenssinn am Institut Neumünster in Zollikerberg gebe ich immer wieder Kurse zu diesem Thema. Beim Versuch zu erklären, was Spiritualität ist, ringe ich jedoch oft nach Worten. Spiritualität ist für mich ein dynamischer Begriff, der sich mir durch seine Bereitschaft zur Veränderung immer wieder auch entzieht. Statt Definitionen liegen mir jeweils eher Gedichte auf der Zunge. Und so habe ich angefangen, jeden Monat ein Gedicht zu existenziellen Fragen und zur Altersthematik auszuwählen und dazu persönliche Anmerkungen und Interpretationsvorschläge zu schreiben. Mir war dabei wichtig, die Lyrik im Alltag von älteren Menschen sprechen zu lassen, um ihnen Mut und Hoffnung zu geben.
Und was geschah dann mit den Gedichten und Ihren Texten dazu?
Am Anfang stellte ich sie auf die Homepage des
Instituts Neumünster. Die vielen positiven Rückmeldungen darauf
motivierten mich, die Texte zu bündeln und als Manuskript dem Verlag
«rüffer & rub» zu schicken. Dort wurden die Gedichte chronologisch,
nach dem Geburtsjahr der Dichterinnen und Dichter geordnet. Dabei
stellte sich heraus, dass aus fast jeder Epoche mindestens ein Gedicht
vertreten war, darunter bekannte und weniger bekannte.
Die Auswahl der Gedichte hat sich also ganz natürlich ergeben?
Ja, und eindrücklich war: Durch Leitmotive und
Bilder, die ganz unterschiedliche Gedichte heimlich miteinander
verbinden, bekam das Ganze eine Art Eigenleben. Ich denke an Bilder, die
sich tief einprägen, beispielsweise die goldene Herbstsonne, die im
Gedicht «Septembermorgen» von Eduard Mörike den Nebel auflöst. Auch die
Leuchtzeiger und das Haus aus Licht in der «Auferstehung» von Marie
Luise Kaschnitz besitzen eine solche Strahlkraft. Ich denke aber auch an die Farbe Grün, die sich im Psalm 23 genauso
zeigt wie im allerletzten Gedicht der Sammlung. Ausserdem findet man das
Motiv der menschlichen Wanderschaft durch das Leben in allen fünf
Jahrhunderten, aus denen die Gedichte stammen.
Jedes Kapitel schliesst mit einem Anreiz: einer Postkarte, einem Textauszug oder einer Einladung zum Singen. Warum?
Ich habe Gedichte ausgewählt, die den Blickwechsel
zur Hoffnung nicht automatisch vollziehen. Die Gedichte enthalten Brüche
und Leerstellen, die dem Verstehen immer wieder auch ein Stück weit
Widerstand leisten und Unverfügbares aushalten. Meiner Meinung nach
sprechen sie die Leserinnen und Leser gerade durch dieses Geheimnisvolle
an. Das Brüchige wird plötzlich zum Fürsprecher für das Suchende im
Menschen, für das Unterwegssein, die Ungewissheit, das Rebellische, das
Klagende, aber auch das Staunen. In sogenannten Denkanstössen am Schluss
jedes Kapitels habe ich versucht, diese Dynamik aufzunehmen. Sie sollen
Neugierde wecken und Mut machen, weiterzudenken und dem Gedicht und
sich selbst immer wieder neu zu begegnen.
Auf welche Weise erleichtert Lyrik den Zugang zur Spiritualität?
Die Sprache des Glaubens und der Spiritualität ist
immer schon eine poetische gewesen. Das zeigt sich eindrücklich bei den
alttestamentlichen Psalmen, dieser ganz frühen Sammlung von Gebeten, in
denen ein menschliches Ich in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen
ein göttliches Du anspricht. Anders als die begriffliche Sprache, theologische Abhandlungen und
Definitionen von Spiritualität strebt Lyrik keine Vollständigkeit und
Präzision an, sondern ist in einem tieferen Sinne prägnant. Durch ihre
Bildhaftigkeit und Offenheit sucht und tastet sie nach spirituellen
Erfahrungen. Das zeigt sich auch darin, dass Gedichte immer etwas
zwischen den Versen, den Gedankenstrichen und Auslassungspunkten
enthalten. Und so können sie auch Leserinnen und Lesern helfen,
Nichtverstehen oder Sehnsucht, das Schweigen und die eigene
Sprachlosigkeit auszuhalten.
Zur Person:
Franzisca Pilgram-Frühauf (Jahrgang 1977) wuchs als
Pfarrerstochter im zürcherischen Elgg auf. Die Germanistin und
reformierte Theologin arbeitet als Fachverantwortliche für Spiritualität
und Lebenssinn am Institut Neumünster in Zollikerberg im Kanton Zürich.
Zudem ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für
Spiritual Care an der Universität Zürich. Sie lebt mit ihrer Familie in
Winterthur. Ihr Buch kann hier bezogen werden.
Zum Thema:
«Am Ende des Tages»: Texte und Gebete, die zur Ruhe kommen lassen
Neues Buch von Felix Schmid: «Das haut mich um!»
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Datum: 14.07.2020
Autor: Sarah Stutte
Quelle: kath.ch