«Vertrauen lässt sich trainieren»
Hauptreferent am Dorfgottesdienst Frutigen in zehn Tagen. In dem Buch thematisiert er, wie es möglich ist, mitten im Schmerz an Gott festzuhalten.Thomas Härry, wie kommt es, dass Sie als Aargauer Hauptreferent am Dorfgottesdienst in Frutigen sind?
Thomas Härry: Das hat vermutlich mit meinem Buch «Sterne leuchten nachts» zu tun,
das beim Abschiedsgottesdienst nach dem Tod der sechs jungen Männer in
grosser Zahl verteilt wurde. Es waren ungefähr 700 Exemplare. Der Pastor
der Gemeinde für Christus, Jürg Hostettler, hatte die Idee, sie zu
verschenken. Obwohl ich beim Trauergottesdienst Ende Januar nicht dabei
war, entstand so eine emotionale Verbindung mit dem Tal – und damit die Idee, mich im Rahmen dieses Dorfgottesdienstes als Redner einzuladen.
Wie ist es möglich, dass Personen mit einem solchen Schicksalsschlag wieder neu Vertrauen ins leben fassen?
Wir Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf einschneidende
Ereignisse in unserem Leben – auch gerade bezüglich Vertrauen. Für die
einen ist das Vertrauen zerbrochen, andere finden recht schnell
wieder zu einer Zuversicht dem Leben und auch Gott gegenüber. Weshalb es
so unterschiedlich ist, weiss ich nicht. Dafür habe ich keine
Erklärung. Möglicherweise ist es eine Frage der Persönlichkeit und der
Erfahrung. Man kann das Vertrauen mit einem Muskel vergleichen. Er lässt
sich trainieren. Auch Menschen, die sich schwertun, Gott oder anderen
Menschen zu vertrauen, können Vertrauensschritte wagen.
Wichtig ist, Trauernden den Raum und die Zeit zu lassen, die sie zum
Verarbeiten des Geschehens benötigen. Vertrauen lässt sich nicht
erzwingen. Jede Person muss für sich selbst an den Punkt gelangen, an
dem sie sagen kann: «Ich gehe weiter! Ich will
wieder Augen für das
Schöne im Leben haben.» Dieses Schöne kann die Geburt eines Kindes sein
oder vielleicht Freundschaften oder die Natur.
Was möchten Sie den Menschen in Frutigen mitgeben?
Aufgrund der Vorgeschichte mit diesem tragischen Unfall habe ich
grossen Respekt vor dieser Aufgabe. Ich sehe es als Möglichkeit, zum
Vertrauen gegenüber Gott einzuladen, den wir manchmal nicht verstehen.
Könnten wir alles einordnen, wäre Gott überschaubar und verfügbar. Doch
das ist er nicht. Ich beobachte oft, dass «wir frommen Menschen» meinen,
wir müssten eine Erklärung abgeben, wenn etwas geschieht, das wir nicht
verstehen. Wir haben Mühe auszuhalten, dass es manchmal keine
Antworten gibt. Mir ist gleichzeitig wichtig, die Menschen zu ermutigen,
mit Gott weiterzugehen. An der Hand dieses Herrn kann ich zur Ruhe
kommen. Auch wenn Fragen offenbleiben, kann ich ihm vertrauen, dass es
eine Zukunft gibt und dass er es gut meint mit mir. Er kann in
schwierigen Ereignissen erstaunliche Spuren hinterlassen. Diese
Zuversicht möchte ich wecken.
Was hat Sie zu dieser Überzeugung geführt?
In erster Linie meine Beobachtungen als Gemeindeleiter und
Seelsorger. Einmal kam ein Paar zu mir, welches ein schlimmes Trauma
durchlebte: Der Schwiegersohn hatte die ganze Familie erschossen, seine
Frau und die zwei Kinder. Das ist ein Extrembeispiel, aber es hat mich
doch so manches gelehrt. Ich traf dieses Paar einige Jahre später. Beide
wirkten auf mich sehr lebensbejahend. Ich fragte sie: «Wie ist das
möglich, dass ihr weiter mit Gott unterwegs seid?» Es folgte ein langes
Gespräch. Am Ende meinten sie: «Für uns gilt der Satz in Psalm 73, Vers
23: 'Dennoch bleibe ich stets bei dir!'» Das hat mich tief beeindruckt.
Fazit: Es ist erstaunlich, dass Menschen mit den krassesten Geschichten
mit einer unglaublichen Lebenszuversicht weitergehen können. Ich möchte
selbst auch lernen, ein vertrauensvollerer Mensch zu werden. Und glauben
Sie mir, ich bin überhaupt kein Vertrauensheld. Schon mehrmals bin ich
darüber erschrocken, wie schnell mich etwas stressen kann. Ich bin
einmal auf ein spannendes Zitat gestossen: «Glaube bedeutet in der
Essenz, Gott in allem zu vertrauen.»
Ein anderer spannender Aspekt punkto Vertrauen: Die Vertrauensfähigkeit Gott gegenüber hat stark damit zu tun, ob ich vertrauenswürdige Menschen in meinem Umfeld habe. Schon bei den Kindern weiss man, dass die Bindung zu den Eltern für das Urvertrauen wichtig ist. Später sind es andere Vertrauensbeziehungen im Leben, die wie ein Verstärker auf das Glaubensleben wirken können. Mitmenschliche Vertrauenserfahrungen funktionieren als eine Art Steigbügel für das Vertrauen in Gott.
Am Dorfgottesdienst in der Sporthalle Widi wird mit Peter Frick auch
ein Bergführer als Interviewgast auftreten. Bei ihm spielt Vertrauen
ebenfalls eine zentrale Rolle. Zählt sein Vertrauen oder jenes von
Extremsportlern zu einer anderen Liga?
Nicht unbedingt. Es zeigt einfach insgesamt: Wir haben so vieles
nicht in der Hand! Ob ich nun als Bergführer den Naturgefahren
ausgesetzt bin oder als Vater bei der Erziehung meiner Kinder an Grenzen
stosse; Vertrauen in Gott manifestiert sich in ganz alltäglichen
Situationen. Ich habe vor einigen Jahren einen Selbsttest gemacht: Bei
allem, was mich etwas ärgerte oder stresste, habe ich mich gefragt, ob
dies in der Essenz mit Vertrauen zu tun haben könnte. Das Fazit war,
dass es fast immer um Vertrauen ging und geht. Es ist interessant, dass
gerade wir Schweizer uns so viele Sorgen machen, obwohl wir eine gute
Grundversorgung haben und mehr als genug besitzen. Wir haben viel zu
verlieren und gehören zu einer Kultur, die mit Unsicherheit nicht gut
umgehen kann. Wie oft habe ich mir schon Sorgen gemacht, dass wir
finanziell als Familie nicht durchkommen. Es erwies sich als unbegründet
und war absolut überflüssig.
Thomas Härry, 1965, wohnt mit seiner Familie in Rombach bei Aarau, wo er über elf Jahre lang als Pfarrer tätig war. Er arbeitet als Dozent und Referent an der «Höheren Fachschule für Kirche und Soziales TDS Aarau». Härry ist Autor vieler Artikel und mehrerer Bücher (u. a. «Sterne leuchten nachts», «Voll vertrauen», «Von der Kunst, sich selbst zu führen») und Mentor von Führungskräften.
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Datum: 10.10.2019
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Hope Frutigland