Findet das Pendel endlich zu seiner Mitte?
Die inzwischen alt gewordene Generation erinnert sich gut, wie nicht nur zuhause, sondern auch in der Schule Prügel für Fehlverhalten ausgeteilt wurden. Wer sich zuhause über den prügelnden Lehrer beklagte, bezog gleich nochmals Prügel. Dann kam die 68er Bewegung mit ihrem Kampf gegen alle Autoritäten. Logisch wurde dann auch eine antiautoritäre Erziehung postuliert, die sich in den folgenden Jahrzehnten in verschiedene Variationen weiter entwickelte. Zum Teil mit verheerenden Folgen. Und heute?
Die Neue Autorität
In der Wochenendbeilage der NZZ vom 19. September heisst es über einem Essay von Martin Beglinger: «Die alte Zucht und Ordnung hat ausgedient, aber die widerspenstigen Kinder sind geblieben.» Dass niemand in die Zeit vor 1968 zurück will, ist klar. Aber man nimmt ebenso klar wahr, dass antiautoritäre oder partnerschaftliche Erziehungsstile nicht allen Kindern gerecht werden. Aus dem Dilemma wurde das Konzept der «Neuen Autorität» entwickelt. Für Eltern und Lehrpersonen, die bislang «Autorität» immer noch als «autoritär» verstanden.
Das Konzept hat ein israelischer Psychologe entwickelt: Haim Omer. Er hat dazu das Buch «Raus aus der Ohnmacht» geschrieben, nachdem er erfahren hatte, dass Kinder ihre Eltern verprügeln. Er stellte fest, dass viele Eltern sich scheuen, Regeln für ihre Kinder aufzustellen, weil sie fürchten, damit ihre Beziehung zum Kind aufs Spiel zu setzen. Sein Konzept kann mit den drei Begriffen «streng, beharrlich und liebevoll» umschrieben werden. Er hat dazu in Zürich unter dem Titel «Stärke statt Macht» referiert.
Kinder einem Lernprozess aussetzen
Regina Haller ist Schulleiterin der Zürcher Volksschule. Sie setzt das Konzept in Zürich um, mit beachtlichem Erfolg. Sie sagt, was vielerorts in Vergessenheit geraten ist: «Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Führung, Schutz und Orientierung.» Sie begegnet Unruhestiftern in der Klasse und insbesondere Mobbing mit Massnahmen, die sich als wirksam erwiesen haben. Werden zum Beispiel Mobbingfälle festgestellt, gibt es für die Klasse einen Aufmarsch von Erwachsenen, welche die Sache zur Sprache bringen und der Klasse Aufgaben erteilen, die später kontrolliert werden. Es stört Haller auch nicht, wenn Fehlbare durch solche Massnahmen beschämt werden: «Scham und soziale Kontrolle gehören zum gesellschaftlichen Lernprozess!»
Herausgeforderte Christen
Christen taten sich in der Vergangenheit lange schwer, von alten Erziehungskonzepten abzurücken, gerade weil die antiautoritäre Welle für sie nicht überzeugend war. Einige verwiesen dabei auf Zitate aus den «Sprüchen» wie «wer die Rute schont, hasst seinen Sohn». Mit den Jahrzehnten vergassen aber auch junge christliche Eltern den Wert von Autorität und Führung, die in Liebe und Konsequenz umgesetzt wird. Wer sich auf das biblische «Exousia» bezieht, das meistens mit «Vollmacht» übersetzt wird, aber eigentlich Autorität im Vollsinn meint, wird auch in der Erziehung sinnvolle Ansätze finden.
Autorität im biblischen Sinne leitet sich letztlich von einer höheren Autorität, nämlich Gott, ab. Wer sich von Gott getragen und in Gott geborgen weiss, kann Autorität anders wahrnehmen, als wenn sie in sich selbst gegründet sein muss. In Gott findet er Liebe, aber auch die Leitplanken für gelingendes Leben (Gebote). Es mag vielen Eltern schwerfallen, Liebe mit Grenzsetzungen zu verbinden, die auch durchgesetzt werden müssen und oft kreative Wege voraussetzen. In diesem Sinne wäre auch das erwähnte Zitat aus den Sprüchen zu verstehen: Wer seinem Kind keine Grenzen setzt, tut ihm nichts zuliebe.
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Datum: 30.09.2020
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet