Auf der Erde und im Himmel

Wieviel Heimat braucht der Mensch?

Was gehört zum Heimatgefühl? Wie kommt uns Heimat abhanden, und was kann sie allenfalls ersetzen? Im INSIST-Gespräch mit dem Psychiater Hanspeter Walti entfalten sich ganz unterschiedliche Dimensionen von Heimat – auch jene der Gläubigen.
Hanspeter Walti

Hanspeter Walti ist Chefarzt der Ambulanten Psychiatrischen Dienste des Kantons Zug. Ich treffe ihn in seinem hellen und geräumigen Büro an der Rathausstrasse in Baar. Er sagt mir zwar schon am Telefon, dass er sich nicht als Spezialist für «Heimat» fühle. Doch dann entsteht ein interessantes Gespräch über Heimat, die Heimatlosigkeit von Expats – Menschen, die meist vorübergehend im Ausland arbeiten müssen – und über die Identität des Menschen, die letztlich eng mit dem Heimatgefühl verwoben ist.

Heimat und Identität

Braucht der Mensch überhaupt eine Heimat, um ein positives Lebensgefühl zu entwickeln? Hanspeter Walti beantwortet die Frage mit einem klaren Ja. Er ist überzeugt: Heimat ist ein Ausdruck von Identität. Es geht um Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, zu einem Netzwerk von Menschen, die einem nahestehen. Wo man Anerkennung erhält, wo man einander kennt und grüsst. Heimat hat laut Walti einerseits eine räumliche Dimension. Es geht um den Ort, an dem ich lebe und wo mir Strassen, Plätze, Häuser und Landschaft vertraut sind. Und wo ich den Preis der Bratwurst kenne.

Heimat bedeutet auch, dass ich mich einzigartig und einmalig erleben darf. Dass ich mit meinen Schwächen und Stärken akzeptiert bin. Dass man meine Stärken schätzt und mir meine Schwächen nachsieht. Es ist ein Zustand, in dem ich mich psychisch wohl fühle und Gegenwart und Zukunft entspannt und gelassen angehen kann. Das bedeutet aber nicht, dass ich von Krisen verschont bleibe und mein Heimatgefühl leidet. Es gibt Phasen im Leben, in denen wir eine neue Identität, eine neue Heimat finden müssen: Übergänge in der Familie, im Beruf, die Versetzung in neue geografische und kulturelle Räume. Nicht alle finden danach wieder eine Heimat.

«Grüezi Switzerland»

Eine besondere Gruppe von Immigranten sind die «Expats». Das sind hochbezahlte Führungskräfte internationaler Konzerne, die mit ihren Familien in die Schweiz kommen und es sich leisten können, sich gut und angenehm einzurichten. Doch ihre Lage ist oft komplizierter als diejenige von Immigranten, die im neuen Land eine definitive Bleibe suchen. Besonders für ihre Familie. Sie ist zwar materiell gut versorgt und lebt an bevorzugter Lage. Doch sie weiss nicht, wie lange ihre Lebenszeit hier dauern wird, und ob es sich lohnt, ein soziales Netz aufzubauen und sich in Kultur und Sprache zu integrieren. Expats bleiben in der neuen Lebenswelt oft ein Fremdkörper. Besonders die Ehefrauen tun sich damit schwer, weil ihnen ausser dem Herumchauffieren der Kinder kaum eine sinnvolle Tätigkeit bleibt. Eine häufige Folge ist Suchtverhalten, Rückzug und Depressionen.

Hanspeter Walti kennt das aus der Beratungstätigkeit der Ambulanten Psychiatrischen Dienste. Neuerdings wird versucht, mit Kursen wie «Grüezi Switzerland» die Expats und besonders die Ehefrauen zu erreichen und ihnen zu erklären, was in der Schweiz gilt und wie man sich im sozialen Umfeld verhält: Welche Sitten, Gebräuche und Rituale gilt es zu beachten? Wie grüsst man sich und wie verabschiedet man sich? Hier erwirbt man Grundwissen über eine Kultur, in die man katapultiert worden ist.

Gefangene der Arbeitswelt

Heute wird in vielen Berufen eine ständige Mobilität verlangt. Die fehlende geografische und berufliche Stabilität macht nicht nur den Topshots zu schaffen, die das Defizit scheinbar mit genügend finanziellen Mitteln kompensieren können. Selbstwertstörungen, Identitätskrisen und Depressionen machen heute zunehmend auch Menschen in Berufen zu schaffen, die früher noch als Lebensberufe galten, oft verbunden mit einer Lebensstelle.

Die berufliche Stabilität der früheren Generation wird durch das Postulat des lebenslangen Lernens und der Tugenden Flexibilität und Mobilität ersetzt. Während einige eine Zeit lang gut damit leben können, driften andere in Krisen und Depression ab. Besonders wenn Familie, Wohnort und soziale Einbindung den Berufsstress nicht auffangen können. Wenn Menschen in solchen unterschiedlichen Lebenswelten stehen, muss wenigstens eine davon die Heimat bilden. Die moderne Welt versucht, auch die Freizeit der Menschen im Beruf zu instrumentalisieren: mit Sonntagsverkäufen, Angeboten rund um die Uhr und der Abschaffung von Fest- und Feiertagen.

Die ganz andere Heimat

Eine besondere Dimension von Heimat ist die Heimat der Gläubigen. Es ist die Heimat «da oben», wie sie u.a. auch im Kirchengesangbuch beschrieben wird. «Ich bin ein Gast auf Erden und hab hier keinen Stand / der Himmel soll mir werden, da ist mein Vaterland», dichtete und komponierte Paul Gerhardt schon 1666 in schwieriger Zeit. «Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir», schreibt der Verfasser des Hebräerbriefs. Christen wissen, dass jede Art Heimat in dieser Welt vorläufig und oft zerbrechlich ist. Das lässt sie auch in beruflichen und familiären Krisen über dieses Leben hinausblicken und eine andere Dimension ins Auge fassen.

Dr. med. Hanspeter Walti (58) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH und Chefarzt der Ambulanten Psychiatrischen Dienste des Kantons Zug. Seit 1994 ist er für den Aufbau und die Leitung dieser Institution zuständig und damit für Fragen der Psychiatrischen Versorgung, Psychiatrieplanung, Suizidforschung und Suizidprävention. Hanspeter Walti ist verheiratet, Vater von 4 erwachsenen Kindern und wohnt in Oberwil bei Zug.

Der ausführliche Artikel kann demnächst hier heruntergeladen werden kann.

Datum: 10.07.2014
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Magazin INSIST

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