Talk mit Roland Hardmeier

Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal

Roland Hardmeier
Betroffen davon, dass Menschen ihr Glaubensfundament aufgeben, schrieb Roland Hardmeier ein Buch. Er will von Fundamentalisten wie auch von Postevangelikalen lernen, ohne dabei konturlos zu werden.

Vor wenigen Monaten erschien das Buch «Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist». Im Livenet-Talk spricht Florian Wüthrich mit dem Autor Roland Hardmeier über seine Beweggründe und die zunehmenden Spannungen zwischen christlichen Ansichten. 

Wenn Glaubensdekonstruktion zum Problem wird 

«Ich habe festgestellt, wie Glaubensfundamente von Freunden, mit denen ich schon jahrelang unterwegs bin, wegbrechen.» Ein Freund erklärte Hardmeier, dass bei ihm nur noch der Glaube übriggeblieben sei, «dass es da oben irgendetwas gibt» – und er war nicht der einzige. Viele fragen sich, was sie überhaupt noch glauben können und ob sie die Bibel anders lesen und interpretieren müssen. «Das hat mich motiviert, die Situation zu analysieren und ein Buch zu schreiben.» 

Heute fällt immer wieder der Begriff Dekonstruktion. Es geht um einen Rückbau von Glaubensinhalten. «Wenn dieser Rückbau an die Substanz geht, welche seit Jahrhunderten Grundbestand des Glaubens war und wenn dabei ein möglicher Glaubensverlust nicht berücksichtigt wird, wird es gefährlich.» 

Fundamentalismus und evangelische Weite 

«Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal»; so lautet der Untertitel von Hardmeiers Buch. «Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde die Theologie relativ liberal. In Amerika startete dann eine Bewegung von konservativen protestantischen Theologen, die begannen, den Glauben zu verteidigen.» Sie schrieben Aufsätze, die unter dem Titel «The Fundamentals» in Buchform veröffentlicht wurden. Wer sich mit den Inhalten dieser Bücher identifizierte, wurde als «Fundamentalist» bezeichnet. «In meinem Buch schreibe ich von Fundamentalisten, wenn es darum geht, ein Mindset zu beschreiben, wo man sich grundsätzlich von der Welt abwendet, den Glauben zu verteidigen versucht und in dieser Verteidigung seine Identität findet.» Hardmeier würdigt das Fundament, welches er in der fundamentalistischen Kirche seiner Jugend erhalten hatte; er habe sich aber aus einer theologischen Enge in eine evangelische Weite entwickelt. 

Von der Toleranz zur Toleranz-Diktatur 

Heute tun sich viele Menschen schwer, biblische Lehre über Sünde, Hölle oder Homosexualität mit ihrem Leben zu vereinbaren. Roland Hardmeier räumt ein, dass auch er mit manchen biblischen Aussagen ringe. Im Blick auf die Kirchengeschichte sehen wir aber, dass Christen immer an einem Grundbestand biblischer Offenbarung festhielten – oft diametral gegen die gesellschaftlichen Überzeugungen. Deshalb ermutige er, bei solchen Spannungen nicht einfach den Glauben zu dekonstruieren, sondern im Gespräch mit Gott zu bleiben und – wo nötig – auch mit offenen Fragen zu leben. 

In der heutigen Zeit ist Toleranz hoch geschrieben. Ursprünglich bedeutet Toleranz, eine andere Ansicht zu ertragen. Hardmeier sagt, man habe dies bis in die 2010er Jahre so gelebt. «Mein Eindruck ist, dass diejenigen, die sich Toleranz auf die Fahne geschrieben haben, die Fundamentalisten und Evangelikalen nicht mehr ertragen.» So werde beispielsweise nicht mehr akzeptiert, aus der Bibel eine Sexualethik herzuleiten. «Wir kommen in eine Diktatur, in welcher diejenigen, die nicht tolerant scheinen, absolut nicht toleriert werden.» 

Zwischen zwei Polen 

Auf der anderen Seite vom Fundamentalismus finden wir den Liberalismus und Postevangelikalismus. Menschen verlassen ihre Kirchen, bezeichnen sich als Postevangelikale und versuchen, ihre toleranten Anschauungen mit der Bibel in Verbindung zu bringen. Hardmeier spricht von den zwei Polen in der christlich-religiösen Landschaft, welche Spannungen generieren. Er selbst versuche, einen Mittelweg zu gehen. Im Schriftverständnis erkennt er bei den Fundamentalisten eine Stärke. Gleichzeitig seien sie aber weltfremd, während Postevangelikale die richtigen Fragen stellen und ein feines Gespür für religiöse Fehlleistungen und Machtspiele haben. Beide Seiten hätten etwas zu sagen und zu geben und deshalb kam es zum Buch «Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist». 

Welches Schriftverständnis habe ich? 

Ist die Bibel Gottes Wort? Oder sind es nur Glaubenszeugnisse? «Es ist mein Anliegen, dass wir unter dem Druck der postmoderner Toleranzkultur einen Grundbestand des Glaubens sichern können. Und diesen leiten wir von der Bibel ab.» Wenn uns nicht klar ist, woher wir unseren Glauben ableiten, wird der evangelikale Glaube belanglos werden. «Ein Schriftverständnis scheint mir sehr wichtig zu sein.» 

«Wir glauben nicht an die Bibel. Wir glauben an Gott. Doch wir glauben durch die Bibel an ihn.» Das Christentum sei völlig unbeständig, wenn jede Generation den Glaubensbestand neu mit dem Zeitgeist aushandeln muss. Das Festhalten am biblischen Zeugnis hilft Roland Hardmeier, auf einem guten Glaubensfundament zu stehen, aber auch dabei, Fragen auszuhalten. Gesellschaftliche Wandlungen und Unsicherheiten hat es immer gegeben und da erträgt es auch, dass bei ihm gewisse Fragen unbeantwortet sind. 

Kirche: Keine Alternative zu versöhntem Zusammenleben 

Aktuell geben zunehmend Christen ihre kirchlichen Zusammenkünfte auf. Dies wird durch die heutigen Informationsflut und Kommunikationskanäle angetrieben. «Dass die Digitalisierung schaffte, was Verfolgung 2’000 Jahre lang nicht geschafft hat, macht mich unheimlich betroffen.» Hardmeier ist überzeugt, dass ein starkes Zeugnis der Kirche nur gelingt, wenn sie sich physisch trifft und versöhnt zusammenlebt. 

Roland Hardmeier betont, wie wichtig es ist, einander zuzuhören. «Wir müssen voneinander lernen, ohne konturlos zu werden.» Das ist sein Bestreben und er ist sich bewusst, dass es zwischen der absoluten Wahrheit und seiner Auslegung immer eine Differenz gibt. Wer die eigene Ansicht standardmässig als Wahrheit bezeichnet, verschliesst sich damit jeglicher Diskussion. «Die Bibel sagt, dass unsere Erkenntnis Stückwerk ist. Wenn ich dies bei meinem Gegenüber akzeptiere, kann ich in einer wertschätzenden, jedoch nicht konturlosen Art unterwegs sein. Und dies sollte uns als Christen auszeichnen.» 

Sehen Sie sich hier den Talk an:

Zum Buch:
«Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist»

Zum Thema:
Roland Hardmeier: «Ich lerne von postevangelikalen Freunden»
Judith Forgoston: Ausbruch aus den Trümmern fundamentalistischer Theologie
Nicht einseitig, aber hilfreich: Was ist eigentlich Glaube?

Datum: 28.02.2025
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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