Willkommen, Schwäche!

Die Sache mit der Schwachheit

Schwacher Junge
Schwachheit gehört zu unserer Wirklichkeit. Sie zu benennen und mit ihr bewusst zu leben, hinterfragt vieles – in unserem Lebensstil und in unseren Gemeinden. Darin liegt aber auch eine neue Freiheit.

Schwäche ist unbeliebt. Wird oft kaschiert und als Makel angesehen. Wer möchte gern schwach sein in unserer Gesellschaft, die auf Leistung und Stärke getrimmt ist?In unseren Gemeinden erzählen wir in «Mit Gott erlebt-Zeiten», wie Gott Wunder tut und unsere Schwäche in Stärke wandelt. In den letzten Jahren bin ich stiller geworden, hin zu einer Fragenden. Von Geschichten umgeben, die auf ein Wunder warten.

Ich erlebe Schwäche auch in meinem eigenen Leben. Werde konfrontiert mit Brüchen, Schmerzen und unlösbaren Konflikten. Und ich erlebte, dass Schwäche bleibt. Leid nicht einfach ausradiert werden kann. Die Schwäche muss Platz im Leben finden. Ein nicht ganz einfacher Prozess, den ich durchwanderte und immer noch durchwandere. Ein Weg, den ich mir nicht ausgesucht habe. Einer, dem ich mich zögernd stellte und auf dem ich beschenkt wurde.

Ja, in mir lebt die Hoffnung und der Glaube, dass Jesus alles, aber auch wirklich alles verändern kann. Aber ich lebe in einer Wirklichkeit, die davon geprägt ist, dass Wunder ausbleiben, dass Schmerzen ertragen werden müssen. Das gehört für mich zum Leben und zum Glauben.

Wo ist Gott hier zu finden?

Ich lebe in einer Welt, in der Krieg ist. Babys sterben. Ehen zerbrechen und auch Gemeinden oftmals kein sicherer Ort sind, um Schwächen ans Licht zu bringen. Viele Menschen haben mir ihre Geschichten erzählt. Geschichten am Tiefpunkt und mit einer Frage: Wo ist Gott hier zu finden?

Einige erzählten mir, dass sie aufgehört haben, gegen ihre Schwäche zu kämpfen. Stattdessen haben sie begonnen, ihr einen Platz zu geben und ehrlich von ihr zu erzählen. Über Gottesbegegnungen an den tiefsten und schwächsten Punkten ihres Lebens. Ich habe angefangen, diese Gespräche aufzunehmen in einem Podcast, weil ich sie so unglaublich wertvoll empfand. Nichts hat mich so sehr berührt wie diese authentischen Begegnungen:

  • Eine Mutter erzählte vom Tod ihres Kindes. Vom Wunder, das ausblieb.
  • Eine Freundin vom Bruch ihrer Ehe und wie ihr ganzer Glaube zusammenbrach.
  • Ein Freund aus Israel berichtete vom Leben im Krieg.
  • Ein Pastor erzählte von einem Punkt, an dem er nicht mehr konnte und zusammenbrach.

Geschichten aus dem wahren Leben. Fragen, die kaum zu ertragen sind. Lebensrealitäten, die kaum Platz fanden im Gemeindekontext. Das hat mich sehr umgetrieben.

Vor allem Fragen

Ich habe oft den Eindruck, wir sind kurz betroffen, wenn wir solche Geschichten hören. Aber die lange Etappe mit einem Menschen am Tiefpunkt zu gehen – das fällt uns unglaublich schwer. Schnell gehen wir über in unsere Lobpreiszeiten und übergehen die Menschen, die sich gerade verloren wie noch nie fühlen. Im Regen stehen gelassen. Allein mit ihrer Not. Allein mit der Frage, ob Gott sie liebt, ob sie mehr beten und glauben müssten, um ihre Situation zu verändern. Als ich anfing darüber nachzudenken, kamen vor allem Fragen auf.

Ist Gottes Nähe – am Tiefpunkt, in der Schwäche und im Kampf – nicht das Entscheidende, was uns durchbringen wird? Werden wir nicht alle einmal auch unseren letzten Kampf mit der Schwachheit, die zum Tod führt, kämpfen müssen? Brauchen wir nicht – nötiger als alles andere auf der Welt – die Gewissheit, dass wir Geliebte sind, ohne Wenn und Aber? Und das gerade dann, wenn wir uns schwach und elend fühlen?

Mitweinen. Mitfragen. Kann ich eine solche Freundin sein, auch wenn Schwäche und Leid Teil eines Lebens bleiben werden – ohne ständig dagegen anzubeten oder kluge Weisheiten zu vermitteln? Könnten unsere «Mit Gott erlebt-Zeiten» auch ehrlichen Austausch beinhalten über das, was wir nicht mit Gott erleben? Was bräuchte es, um solche Prozesse in christlicher Gemeinschaft anzuschieben?

Könnte es sein, dass in uns ein Bild des Glaubens schlummert, dass eigentlich alles gut, heil und vollkommen sein müsste, wenn wir mit Jesus auf dem Weg sind? Und wenn es nicht so ist, dass dann etwas mit unserem Glauben oder unserem Gebet nicht stimmt?

Ich weiss, diese Fragen sind nicht angenehm. Denn sie entlarven, wo wir uns am liebsten aufhalten und welchen Geschichten wir gerne Raum geben. Ich weiss, diese Fragen könnten unsere Prozesse und Konzepte in Gemeinde hinterfragen und stören. Ich weiss, wir könnten uns plötzlich hilflos fühlen. Und mittlerweile ahne ich aber auch, dass sie uns zu einem heiligen Moment führen könnten, an dem wir spüren, dass wir nicht alles «machen» und «verändern» können.

Es kostet mich Mut

In diesem Sommer predigte ich bei einer Zeltveranstaltung. Im eigenen Prozess des Umgangs mit Tiefpunkten und Schwächen wollte ich mich in den Predigten genau diesem Thema stellen. Ich rang wie nie um Worte. Ich war selbst so berührt von meinen eigenen Fragen. Ich wollte keine schnellen Antworten finden, sondern wirklich nachdenken über einen Glauben am Tiefpunkt. Über die Karfreitage und Karsamstage des Lebens, die noch nichts ahnen können von Auferstehung und Neuanfang.

Es kostete mich Mut. Viel Mut. Ich sprach Sätze aus, die ich vermutlich so noch nie ausgesprochen habe. Sätze mit offenem Ende. Sätze, die versuchen, das Unaussprechliche auszuhalten. Viele Menschen erzählten mir daraufhin ihre Geschichten. Teilten ihr Herz, ihre Tränen und ihre Fragen. Vom Erleben, dass Schwachheit ins Leben kam. Vom Tod, der unerwartet ins Leben kam und das Liebste wegnahm. Von Schwäche, die ins Leben einzog und einfach blieb. Vom sich Fremdfühlen in christlicher Gemeinschaft.

Eine Begegnung hat mich besonders berührt. Die Eltern eines Kindes mit mehrfachen Beeinträchtigungen kamen auf mich zu und sagten: «Seit Jahren haben wir das Gefühl, mit unserer Geschichte und unserem Leid nicht mehr in Predigten vorzukommen. Wir passen nicht mehr. An diesem Wochenende hat zum ersten Mal jemand ausgesprochen, wie wir uns fühlen. Das hat uns sehr ermutigt. Das lässt uns neu glauben, dazuzugehören mit unserer Geschichte.»

Es hat mich berührt und es hat mich erschüttert. Es hat mich neu träumen lassen. Was könnte geschehen, wenn Gemeinden Orte wären, an denen Leid und Schwachheit wirklich willkommen sind? Wirklich willkommen. Ein Ort, an dem wir die Wunder feiern und da sind, wenn die Wunder ausbleiben.

Während meiner Predigtvorbereitungen hatte ich einen Moment, der eine ganz neue Gewissheit in mein Herz brachte. Bei all dem Ringen und Kopfschütteln. In allen Fragen und Herausforderungen spürte ich ganz neu ein Geliebtsein in dem, was ist. Den Gott, der aushält, der liebevoll hinsieht und der uns immer weiter zu sich lieben wird – in allem!

Vielleicht ist das genau das Geheimnis unseres Glaubens, dass wir eines wirklich erfahren dürfen: Wir glauben an einen Gott, der selbst Schwäche kennt. Ein Gott, der uns deshalb nah sein wird, wenn wir uns schwach fühlen – immer.

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Datum: 26.11.2024
Autor: Dorothea Bronsema
Quelle: Magazin Aufatmen 4/2024, SCM Bundes-Verlag

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