Umglauben – durch Krisen an Tiefe gewinnen
«Wir hätten uns gewünscht, mit jemandem reden zu können, der in der gleichen Situation ist», erinnert sich Gaby Stamm. Die 56-Jährige und ihr Mann David, 57, gehören zum GLOW-Team, drei Ehepaaren, die ungewollt kinderlos sind. Diese Sehnsucht motivierte sie, 2021 den Verein zu gründen. GLOW steht für Glauben leben ohne Wunschkind. Der Verein will Paare vernetzen, bietet Austausch an, sucht gemeinsam nach Alternativen zum Familienleben mit Kindern und ermutigt, den Glauben zu leben, auch ohne Wunsch- oder Geschwisterkind. Die psychosoziale Beraterin Gaby Stamm bietet spezifisch Gespräche und Begleitung dazu an.
Nur wir nicht…
Die sechs Teammitglieder kennen alle den Schmerz, der sich einstellt, wenn vermeintlich alle anderen Frauen schwanger werden – nur man selbst nicht. Wenn die Männlichkeit in Frage gestellt ist wegen der Spermienqualität. Oder die Schwangerschaft nach ein paar Tagen oder Wochen wieder endet – jedes Mal enttäuschte Hoffnung, die man verarbeiten muss. «Das Thema betrifft einen das ganze Leben – wir werden auch nie Grosseltern, keine Enkel bekommen…», stellt Gaby fest. Auch Christa Colella erlebt, dass sie immer wiedermal übermannt wird von tiefer Trauer über das, was nicht ist und nicht sein wird. «Tiziano und ich ringen dann mit Gott um eine andere Berufung und andere Menschen, die wir prägen dürfen…»
Umglauben
Andreas Loos widmete sich in seinem Vortrag beim Treffen auf dem Bienenberg der Spannung zwischen leidvollen Krisen und unserer Gottesvorstellung. Er machte den sieben teilnehmenden Paaren Mut, Gott neu zu denken und «umzuglauben». Gott habe sich anscheinend entschieden, eine Welt zu erschaffen, in der uns das Leben wunderbar berührt, aber auch widerständig ist und uns schmerzhaft trifft. Umglauben heisse an dieser Stelle, Gott als freisetzende Liebe zu verstehen, welche die Schöpfung mit echter Freiheit begabt. «Diese Freiheit beinhaltet das Risiko, dass in der Welt Leid entsteht.»
Der Theologe sprach aus eigener Erfahrung: Vor einem Jahr verlor er seine Frau nach 17-jähriger Krebserkrankung. «Leid widerfährt einem einfach – wir müssen uns anfreunden mit der Unberechenbarkeit des Lebens.» Zum Leid der Kinderlosigkeit führte er aus: «Wir reagieren auf schmerzliche Ereignisse, die uns betreffen – wir leiden, weil wir einen Wunsch, der sich nicht erfüllt, nicht loslassen können.» Ein Paar, das keine Kinder bekomme, erdulde eine schwerwiegende Hemmung des Lebens und leide am ungelebten Leben des Kindes, am ungelebten Leben als Eltern.
Noch mehr Möglichkeiten
Eine Möglichkeit, umzuglauben, lag Andreas Loos besonders am Herzen: Gott sei nicht der Allwissende und Allmächtige, der die leidvolle Krise einfach beende. Sondern er sei der Gott, der in Liebe unser Leben teile und die Tiefen mit uns durchleide. «Jesus leidet mit uns an der Vorstellung, dass Gott nicht hilft.» Diese Gottesvorstellung ist für viele Menschen, aber auch für ihn persönlich die Quelle für jene Trotzkräfte, die einen in der Krise erst mal aushalten lassen.
Trotzkraft
Aus Christine Bruderecks Buch «Trotzkraft» zitierte Loos: «Gott, du schweigst. Aber ich weigere mich, dein Schweigen mit Gegenschweigen zu beantworten.» Schliesslich fragte der Theologe nach den Quellen der Hoffnung. Umglauben heisse hier, nicht nur aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft zu denken, sondern die Zukunft adventlich zu verstehen, als Ankunft. Der Zeitpfeil drehe sich dann um: «Gott kommt uns durch seinen Geist aus der Zukunft seines Reiches mit unbegrenzten Möglichkeiten entgegen.» Dies könne man betend ausdrücken: «Heiliger Geist, eines Tages werde ich es überlebt haben.» Hoffnung bedeute, ausgerichtet zu bleiben für die Möglichkeit des Guten: «Und sie wird wachgehalten durch kleine und grosse Begebenheiten des Alltags, die wir einander am besten erzählen.»
Geh ein Stück mit mir
In der Austauschrunde berichteten Teilnehmende von Erfahrungen, die ihren Schmerz verstärken. Auf Sprüche wie: «Das wird noch, ihr seid ja noch jung!» oder «Wenn du nicht mehr daran denkst, dann wirst du schwanger werden», hätten sie gern verzichtet. Auch auf Prophezeiungen: «Nächstes Jahr werdet ihr Eltern eines Sohns.» Die betroffene Frau meinte: «Behaltet solche Eindrücke für euch, bis sie sich bestätigt haben. Dann könnt ihr sie gerne mitteilen – vorher nicht.»
Eine andere bat eine Ratgeberin: «Du musst nichts sagen – geh ein Stück Weg mit mir.» Als ihr ein vierfacher Vater die Hormonbehandlung ausreden wollte, konnte sie nur entgegnen: «Du hast ja keine Ahnung!» Ein Mann meinte: «Wir können schlecht mit Leid umgehen – wir lagern es aus. Man sollte in der Gemeinde darüber reden, damit wir es lernen.» Für viele Paare ist das Warten auf ein Kind ein sehr sensibles Thema – sie möchten nicht darauf angesprochen werden, wenn sie es nicht von sich aus aufbringen.
Umgang mit Schmerz
Gemeinsam mit den sieben Paaren überlegte Andreas Loos, wie man mit dem Schmerz umgehen könne. Statt ihm auszuweichen oder ihn vergeblich loswerden zu wollen schlug er vor: «Wenn er hochkommt, bitte ihn, hereinzukommen und Platz zu nehmen. Rede mit ihm – ihr kennt euch ja schon gut. Gestatte ihm, eine Weile da zu bleiben, und dann verabschiede ihn wieder.» Er erwähnte Psalmen, in denen der Schreiber mit seiner Seele redet.
Komm, Heiliger Geist
Er selbst, so Andreas Loos, halte sich dem Heiligen Geist jeden Morgen hin: «Hier bin ich, Heiliger Geist. Erfülle mich und spiel mich frei! In deiner Kraft stehe ich jetzt auf; in deiner Kraft gehe ich durch diesen Tag; in deiner Kraft laufe ich dem Leben in die Arme; in deiner Kraft wird mein Leben eines Tages aufgeblüht sein.» Auch die Anwesenden ermutigte er: «Ich traue dem Heiligen Geist zu, dass ihr in 10, 20 Jahren zurückblickt und sagt: Unsere Kinderlosigkeit bleibt schmerzlich, dunkel und sinnlos. Aber der Geist Gottes hat daraus ein anderes Glück gemacht und einen anderen Sinn wachsen lassen.»
GLOW – leuchten, strahlen
Dass das Leben eines Paares Leuchtkraft entwickelt, ist nicht von Kindern abhängig. GLOW möchte durch Vernetzung dazu beitragen, andere Möglichkeiten zu entdecken. Die Kommentare der Teilnehmenden nach dem Wochenende zeigen auf, dass dies gelingt: «Ihr habt das Programm sehr wertschätzend gestaltet. Es tat mir gut, auszutauschen, Leben zu teilen – die Arbeit von GLOW ist wohltuend für meinen inneren Schmerz. Ich bin ermutigt worden.»
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Autor:
Mirjam Fisch-Köhler
Quelle:
Livenet