Meine, deine, unsere Lebenswege
Eigentlich wollte ich schon immer mal… weniger arbeiten und mehr geniessen, mich im Toten Meer treiben lassen, den Jakobsweg gehen, Surfen lernen, Polarlichter sehen, den Eiffelturm besuchen, eine neue Sprache lernen, mich stärker ehrenamtlich engagieren, eine gemeinsame Reise mit den Eltern machen, mir mehr Zeit für gute Gespräche nehmen…» Welche Ideen gehen Ihnen dabei durch den Kopf? Was steht auf Ihrer persönlichen «Bucketlist»? Welche Träume, Ziele, Wünsche und Erlebnisse sollen in Ihrem Leben oder im Leben Ihrer Familie auf gar keinen Fall fehlen?
In den Gesprächen in meiner Praxis lerne ich häufig Menschen kennen, bei denen es (bisher) beim «Eigentlich wollte ich immer mal…» blieb. Weil das Leben dazwischenkam, mit all den Anforderungen, Verpflichtungen und den unzähligen Aufgaben und Kleinigkeiten. Weil etwas anderes immer wichtiger war. Weil die Zeit fehlte oder der Mut oder beides. Zurück bleibt meist das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Eine Unzufriedenheit oder der Eindruck, nicht das Leben gelebt zu haben, das hätte sein können.
Ganz besonders schmerzlich ist es, wenn Menschen sich in Trauerprozessen befinden. Wenn nicht mehr die Gelegenheit besteht, etwas nachzuholen, ist der Schmerz über die verpassten Möglichkeiten gross. Weil vieles ungesagt blieb. Weil wichtige Fragen nicht mehr gestellt und beantwortet werden können. Weil gemeinsame Erlebnisse nicht mehr nachgeholt werden können. Weil Verletzungen keine Heilung mehr erfahren oder die Dankbarkeit und Liebe nicht deutlich genug gezeigt wurde.
Die Eltern besser verstehen
Mit diesen Zeilen möchte ich Sie dazu ermutigen und einladen, sich bewusst Zeit zu nehmen, um mit den älter werdenden Eltern ins Gespräch zu kommen. Wir alle wissen nicht, wie viel Zeit uns dazu noch bleibt. Wie wäre es, diesen Austausch bewusst einzuplanen? In netter Runde bei einer Tasse Tee und einem Stück Kuchen? Oder lieber bei einem Glas Wein am Abend? Nach dem Motto: «Erzähl doch mal… Wie war das denn bei dir? Wie war das bei euch?» Dabei hilft es, offene Fragen zu formulieren, Interesse zu zeigen und genau zuzuhören, um rückblickend das Leben der Eltern besser zu verstehen. Wenn Sie Ihre Prägungen und Ihr Geworden-Sein nachvollziehen können, fällt es Ihnen leichter, auch sich selbst und das eigene Leben besser zu verstehen.
Was beim Gespräch mit den Eltern eine Hürde sein kann, ist die Tatsache, dass die Generation der älter werdenden Eltern möglicherweise nicht so geübt darin ist, zu reflektieren und innezuhalten. Je nach Alter kommen die Eltern vielleicht aus einer Generation, in der es darum ging, zu funktionieren und weiterzumachen. Hier gilt es, keinen Druck aufzubauen, den Eltern Zeit zu lassen und offen zu sein für das, was kommt. Und auch stehen zu lassen, wenn da wenig kommt. Vielleicht gibt es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal die Gelegenheit, die losen Enden wieder aufzunehmen.
Manchmal kann es im gemeinsamen Gespräch auch um Themen gehen, die schmerzlich sind. Hier ist es hilfreich, die WWW-Regel (Wahrnehmung – Wirkung – Wunsch) zu beachten. Ich erkläre das an einem Beispiel. Wahrnehmung: «Ich habe es damals so empfunden, dass du viel mit deiner Arbeit beschäftigt warst.» Wirkung: «Das hat auf mich so gewirkt, als ob ich dir nicht wirklich wichtig bin. Darüber war ich oft traurig. Manchmal auch wütend.» Wunsch: «Ich hätte mir gewünscht, du hättest mehr Zeit mit mir verbracht.» Dieses Vorgehen öffnet die Tür zu einem ehrlichen Gespräch, ohne Verbitterung zu schaffen und Mauern zu bauen.
Bilder bauen Brücken
Was beim Gesprächseinstieg ganz praktisch hilft, sind Bilder. Sie können eine schöne Brücke sein, um ins Gespräch zu kommen. Besonders wenn die Gedächtnisleistung oder Konzentration altersbedingt nachlässt, können Bilder als Anker dienen und Emotionen und Erinnerungen wecken. Das können Fotos sein, die im Laufe des gemeinsamen Lebens entstanden sind. Es können aber auch Gegenstände oder Erinnerungsstücke sein, mit denen man etwas Bestimmtes verbindet.
Eine weitere schöne Möglichkeit ist die Metapher des Lebensweges. Denn Lebenswege sind vielfältig. Jeder Weg ist einzigartig und besonders – so wie der Mensch, der ihn geht. Manchmal sind die Wege leicht und die Lebensreise unbeschwert. Alles passt, und das Glück ist im Gepäck. Manchmal können Lebenswege aber auch gewunden und anstrengend sein. So wie Weggabelungen, die Entscheidungen nötig machen, Sackgassen, die zum Umdenken zwingen und Weggefährten, die eine andere Route einschlagen. Die Metapher des Lebensweges kann dazu anregen, loszugehen oder loszulassen. Sie kann dabei unterstützen, sich mit den Windungen des Lebens auseinanderzusetzen und das eigene Leben Revue passieren zu lassen.
Praktische Anregungen
Rückwärts: Mit Fotos oder mit persönlichen Erinnerungsstücken lässt sich ein Weg legen – ein Lebensweg. Dabei kann man die Bilder oder Erinnerungsstücke nutzen, um besondere Ereignisse, Entscheidungen oder Stationen des Lebensweges sichtbar zu machen und so leichter in den Austausch zu kommen. Hilfreich kann dabei auch das Bildkartenset «Lebenswege» sein, das ich gemeinsam mit dem Beltz-Verlag entwickelt habe.
Zeitreise: Man selbst und/oder die eigenen Eltern wählen sich aus den Fotos, Erinnerungsstücken oder Bildkarten einige aus. Diese werden bestimmten Erlebnissen oder Zeitabschnitten zugeordnet. Gemeinsam kann man darüber ins Gespräch kommen.
Vorwärtssuche: Wie soll unser gemeinsamer Weg – die Zeit, die uns noch bleibt – aussehen? Wie stellen wir uns diese Zeit vor? Was ist dir/euch dabei wichtig? Würden wir davon ein Erinnerungsfoto machen – was wäre dann auf jeden Fall darauf? Würden wir davon einen Erinnerungsgegenstand aufheben, welcher wäre das?
Hilfreiche Fragen
Leichte Wege: An welche Lebenswege erinnerst du dich besonders gern und warum? Was hast du bereits alles Wunderbares auf deiner Lebensreise gesehen und erlebt? Welche Stationen oder «Aussichten» waren besonders schön? Wo bist du auf deinem Lebensweg so richtig «aufgeblüht»?
Schwere Wege: Welche Wege in deinem Leben waren für dich schwer? Wo verlief dein Weg eher mühsam? Wie hast du dich dabei gefühlt? Was hast du auf diesen Wegen gesehen und gehört? Wo hast du dich «verlaufen» oder bist in eine Sackgasse geraten? Wo hast du einen «Umweg» gemacht? Welche Lebensübergänge waren herausfordernd? Wen oder was musstest du auf diesem Weg loslassen?
Grenzen und Hindernisse: Wo gab es Hindernisse auf deinem Weg? Welche Hürden gab es in deinem Leben? Wo lagen «Steine» im Weg? Wie viel Kraft brauchtest du zur Überwindung? Wo fehlt gerade die klare Sicht? Welches «Gepäck» schleppst du aktuell mit dir herum?
Ressourcen und Kraftquellen: Was gibt/gab dir Kraft? Welche Stärke steckt/steckte in dir? Welche Personen waren auf deinem Weg besonders hilfreich und warum? Welche Zeiten in deinem Leben sind dir im Rückblick zu einer Kostbarkeit geworden? Wo und bei wem hast du Spuren hinterlassen und wer bei dir? Was ist deinem Leben zu einem mutmachenden Lichtblick geworden?
Orientierung und Aktivierung: Wo gibt es gerade Stillstand? Wie kannst du wieder in Bewegung kommen? Was wäre ein nächster Schritt? Wer oder was gibt dir Halt auf deiner Lebensreise? Welche Werte können dabei Wegweiser sein? Von welchem Lebensziel träumst du noch?
Vergangenes und Zukünftiges
Das Gespräch miteinander bewusst zu suchen und zu strukturieren, hilft dabei, ein Gleichgewicht herzustellen, sodass alles Raum findet: das Helle und Dunkle, die Höhen und Tiefen, die Stärken und Lebensleistungen, aber auch die Versäumnisse. All das, was unsere Eltern waren und eben auch nicht waren. All das, was auch wir als Kinder waren und nicht waren. Ein ehrliches Gespräch hilft dabei, ein Gleichgewicht zwischen den traurigen und enttäuschenden Momenten einerseits und den guten Momenten andererseits herzustellen. Es gibt Raum für Dankbarkeit und bietet die Chance, Versäumtes zu vergeben und loszulassen. Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir können daraus lernen und unsere Gegenwart bewusst gestalten. Der dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard bringt das wundervoll auf den Punkt, wenn er schreibt, dass das Leben rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt werden muss.
Indem wir die Vergangenheit verstehen und darüber sprechen, schaffen wir die Grundlage für eine bewusst gestaltete Zukunft. Durch das Erzählen von Geschichten und das Teilen von Erinnerungen entstehen Verbindungen und ein tieferes Verständnis füreinander. Nutzen wir die Gelegenheit, gemeinsam mit unseren Eltern in die Vergangenheit zu reisen und die noch verbleibende Zeit aktiv zu gestalten!
Brauchst du Hilfe oder einfach ein offenes Ohr? Dann melde dich bei der anonymen Lebenshilfe von Livenet per Telefon oder E-Mail. Weitere Adressen für Notsituationen finden sich hier.
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Datum: 05.11.2024
Autor:
Susanne Büscher
Quelle:
Magazin FamilyNext 06/2024, SCM Bundes-Verlag