Heilige Momente am Esstisch
Trockenblumen in stylischen Glasvasen, rotbraune Tonkrüge, Kerzenschein und dazu frisches Fladenbrot und eine herrlich duftende Kürbissuppe auf den Tischen. Daran sitzen Menschen, die sich sonst wohl nie begegnet wären: ein junger Mann, Mitte 30, der sich nach Verbundenheit und Spiritualität im Leben sehnt, bei Kirche aber nichts findet, das zu ihm passt. Eine ebenso junge Frau, die erst seit einigen Jahren in Deutschland lebt, aber spürt, dass sie in «normale» deutsche Gottesdienste nicht reinpasst. Ein junger Vater, der sich in der Konfirmandenzeit und der Evangelischen Jugend bei Kirche zuhause gefühlt hat, in seinem neuen Lebensabschnitt aber nicht weiss, wo er bei Kirche andocken soll. Aber auch einige ältere Personen, die öfter in einen Gottesdienst gehen oder sogar im Kirchenvorstand Mitglied sind, sitzen an diesen Tischen. Für diesen einen Abend sind wir alle eine Gemeinschaft, sind wir Kirche. Teilen Geschichten aus unserem Leben, ein leckeres Essen und Brot und Wein im Abendmahl. Das Ganze nennt sich «Dinner Church».
Durch Mitarbeit Teil einer Gemeinschaft
Unser Gottesdienst beginnt mit der gemeinsamen Vorbereitung: Die einen helfen beim Kochen mit, schnippeln Paprika, schälen Ingwer oder brechen Fladenbrot in kleine Stücke. Andere stellen Tische auf, decken Teller und Becher ein und sorgen mit ästhetischer Deko für ein gemütliches Ambiente. Auch wer zum ersten Mal dabei ist, ist durch das Mitarbeiten direkt Teil unserer Gemeinschaft. Später starten wir mit einem Kerzenritual: Wir geben uns gegenseitig das Licht weiter und ziehen im Anschluss alle mit unseren Kerzen an die Tische, zünden dort die Kerzen an und markieren diesen Ort so als heiligen Ort. Dann essen wir, führen tiefgehende Gespräche, singen, beten und lassen Impulse auf uns wirken. All das ist eingerahmt in eine Abendmahls-Liturgie. Unser Leben, das, was uns wirklich beschäftigt, ist so mittendrin im Gottesdienst.
Die Idee zur Dinner Church stammt von St. Lydia’s Dinner Church, einer lutherischen Gemeinde in Brooklyn, New York. Die Pastorin Emily Scott hat festgestellt: New Yorker in ihrer Umgebung leben häufig allein, haben fordernde Jobs und wenig Zeit für ausgedehnte Mahlzeiten. Deshalb feiert St. Lydia’s Gottesdienst rund um eine selbstgekochte Mahlzeit. Damit hat die Gemeinde eine alte christliche Tradition wiederbelebt: Ganz am Anfang der Kirche gehörte gemeinsames Essen selbstverständlich zum Gottesdienst dazu. Man kann in der Bibel nachlesen, wie Jesus schon mit seinen Freunden Brot gebrochen hat und gesagt hat: «Das ist mein Leib.» Und in den ersten Jahrhunderten danach sind Christen sonntags für ein gemeinsames Essen zusammen gekommen.
Gemeinsames Essen hat Heimatkraft
Ob man alles versteht, was bei der Dinner Church passiert oder gar glaubt, ist gar nicht so wichtig: Die alten Worte und Handlungen entfalten ihre Kraft von ganz alleine. Bei uns wird niemand gefragt, was er glaubt oder zu welcher Kirche sie gehört. Wenn du bei der Dinner Church anwesend bist, bist du mit uns für diesen einen Abend Kirche. Und du musst liturgisch wirklich gar nichts wissen: Jede und jeder bekommt zu Beginn ein ausführliches Gottesdienst-Heft in die Hand gedrückt. Da steht jeder einzelne Satz drin, der an diesem Abend gesprochen wird. Alle wissen so, was wann passiert.
Wenn wir mit unserem Essen fertig sind, ist die Liturgie noch nicht zu Ende: Als letzten Punkt in unserem Gottesdienst räumen wir gemeinsam wieder auf. Und das endet in einem grossen Gewusel: Geschirr in die Spülmaschine und den Rest wieder auf Anfang zurückbauen. Jeder findet etwas zu tun und in recht kurzer Zeit können wir alle heim gehen. Hier wird für mich besonders greifbar, wie wir an diesem Abend zu einer kleinen Gemeinschaft geworden sind.
Die Dinner Church wird veranstaltet von Munich Church Refresh in Kooperation mit der Kreuzkirche in Schwabing und ist eines von vielen Formaten, dass die junge Initiative für die Evangelische Kirche in München entwickelt. Das bunte Team von Munich Church Refresh besteht aus herzlichen Münchnerinnen und Münchnern, die neue Wege von Kirche und christlichem Glauben im Heute der Grossstadt gehen. Munich Church Refresh besteht aus Menschen, die eine Sehnsucht nach Tiefe im Leben haben, nach Verbundenheit mit sich selbst, anderen und Gott.
Zum Thema:
Kirche am Esstisch: Dinner-Kirchen, ein neuer Trend weltweit
«Hier werden Sie geholfen!»: Kirchen gegen Hunger und Durst
Platz für alle!: Jesus hätte heute eine Eckbank
Datum: 31.10.2024
Autor:
Daniel Steigerwald
Quelle:
Magazin 3E 03/2024, SCM Bundes-Verlag