Das Spannungsfeld Kirche
Schaut man sich die jüngsten Statistiken an, könnte man vermuten: nein. Die Kirchenaustritte in den letzten Jahren haben 2022 einen Höchstwert erreicht – knapp eine Million Menschen verliessen in dem Jahr die katholische oder evangelische Kirche in Deutschland. Während 1992 noch 70 Prozent der deutschen Bevölkerung offiziell zur Kirche gehörte, sind es 2022 nur noch 47 Prozent. Das ist ein bedeutsamer Rückgang, mittlerweile gehören mehr Menschen in Deutschland nicht mehr zu einer Kirche.
Beim Gottesdienstbesuch sieht es noch bescheidener aus – nur 6 Prozent der Katholiken und nur 1,5 Prozent der Protestanten besuchen regelmässig einen Gottesdienst. Kirchengebäude selbst verkommen zu historischen Relikten oder versuchen sich als Bibliothek, Museum oder Club in die Postmoderne zu retten. Es ist eine schmerzhafte Beobachtung, wie die Kirche zurückgeht, am Rand der Gesellschaft ein eingestaubtes Dasein fristet und aufgrund von Skandalen und mangelnder Strahlkraft ihren Einfluss zu verlieren droht.
«Die Kirche ist eine Hure...»
Als ich für ein Semester in Kanada studierte, machte meine christliche Studentenorganisation eine Aktion mit einem «umgekehrten Beichtstuhl». Es sah aus wie ein normaler Beichtstuhl, doch dort beichteten nicht die vorbeilaufenden Leute ihre Sünden, sondern Vertreter der Kirche, die bereit waren, auf die Missstände und das Versagen der Kirche hinzudeuten. Wir anderen aus dem Team trugen T-Shirts mit der Aufschrift: «Die Kirche ist eine Hure, aber sie ist meine Mutter.»
Ein aufsehenerregendes Zitat, das dem grossen Kirchenvater Augustinus (4.Jh. n. Chr.) zugeschrieben wird. Schon Augustinus sah, dass die Kirche ihrem Auftrag untreu war und prangerte die Missstände in der Kirche an – nach ihm übrigens weiter unzählige Menschen. In 2000 Jahren Kirchengeschichte scheint richtig viel schief gegangen zu sein und heute hat die Kirche in Europa nicht nur ihren guten Ruf, sondern auch einiges an Einfluss eingebüsst. Doch politischer Einfluss und pompöse Gebäude waren nie ihr Ziel.
... aber sie ist meine Mutter
Augustinus wollte hier wohl die Spannung aufzeigen: «Ich kritisiere die Kirche, aber ich gehöre auch zu ihr». Als Pastorin kenne ich diese Spannung. Ich arbeite in der Kirche und gleichzeitig sehe ich den Ballast der Vergangenheit und der Gegenwart. Ich kann und will mich gar nicht mit allem identifizieren, wo Kirche draufsteht. Ich sehe auch nicht ein, mich loyal blind zu ihr zu stellen – weshalb das Wort «Mutter» hier auch ein bisschen problematisch ist. Denn die eigene Mutter liebt man vielleicht, egal, was sie macht.
Das geht vielen Kindern Gottes mit der Institution Kirche nicht so. Mir selbst auch nicht. Mit Mitte 20 hatte ich meine Liebe und Vision für Kirche verloren. Die Erfahrungen von befremdlicher Weltabgewandtheit, Druck und Irrelevanz hatten mich von der Kirche entfernt. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass sie für mich wieder wichtig werden könnte. Da bin ich kein Einzelphänomen. Es gibt viele Menschen, die in Kirche aufgewachsen sind und die zunehmend den Eindruck haben, dass sie da nicht mehr dazugehören können und wollen.
Was soll Kirche dann sein?
Wenn wir an die Anfänge der Kirche denken, steht was anderes in der Mitte. Jesus Christus tritt in diese Welt und kommt den Menschen ganz nah. Er verkündet ein Reich, das nicht von dieser Welt ist: «Glückselig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heissen.» (Matthäus Kapitel 5, Vers 9) – «Ihr seid das Salz der Erde. Aber wenn das Salz nicht salzt, ist es nutzlos.» (Matthäus Kapitel 5, Vers 13) – «Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch verfolgen» (Matthäus Kapitel 5, Vers 43) – «Ihr sollt andere nicht verurteilen» (Matthäus Kapitel 7, Vers 1) und vieles mehr.
Jesus hatte bei der Vorstellung seiner Kirche keine Institution vor Augen, sondern eine Gemeinschaft, die sein Reich in dieser Welt verkörpert und Gottes Wirken damit Raum gibt. Die frühen Gläubigen – Juden- und Heidenchristen – versammeln sich, weil sie glauben, dass Jesus von den Toten auferstanden ist, und ihre Verkündigung speist sich aus dem, was Jesus gesagt und gelebt hat. Sie flüchten nicht aus der Welt, sondern erfüllen ihren Auftrag inmitten der Gesellschaft. Ihre gegenseitige Liebe, das Kümmern um die Schwachen der Gesellschaft und die radikale Ethik bilden ihr Herzstück und bringen sie in Verruf.
«Wer das ‚Kirchesein‘ in Anspruch nimmt, stellt sich damit zugleich unter eine steile Selbstverpflichtung», schreibt der Theologe Manuel Schmid und ich denke, er hat Recht. Kirche ist da, wo die Liebe Gottes zu den Menschen tatkräftig anpackt. Kirche ist da, wo die gute Nachricht von Jesus lebendig, heilsam und befreiend verkündet wird.
Ihre Mitte muss frei bleiben
Kirche gibt es nicht zu deinen oder meinen Konditionen, wir sind nicht ihr Anfang und auch nicht ihr Ende, geschweige denn ihre Mitte. Die Mitte von Kirche ist und muss Jesus bleiben.
Nur dann behält sie nicht nur ihre Daseinsberechtigung, sondern bleibt die verändernde Hoffnungskraft in dieser Welt, die sie von ihrem Grund her sein soll. Es ist diese Gestalt der Kirche, die mich wieder einlud, mich mit ihrer Schönheit inmitten dieser Welt berührte und neu hoffen, vertrauen und sie lieben liess. Diese Kirche, die Gott liebt und von der er in dieser Welt gebraucht werden möchte. Unsere Welt hat sich in den letzten Jahrhunderten massiv verändert, das Zentrum des Christentums liegt nicht mehr auf diesem Kontinent und wächst da am schnellsten, wo es am unwahrscheinlichsten schien.
Doch wenn Kirche Jesus in ihrer Mitte behält, kann sich ihre Gestalt ändern und ist dennoch gekommen, um zu bleiben, zu lieben und zu wachsen. Mit diesem Blick halte ich trotz desillusionierenden Zahlenrückgängen und Veränderungen vor meiner Haustür das Wort von Jesus für wahr, als er sagte: «Selbst die Pforten der Hölle sollen meine Gemeinde nicht überwältigen.» (Matthäus 16, Vers 18) Denn die Liebe Gottes ist gekommen, um zu bleiben. Here to stay.
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Datum: 12.08.2024
Autor:
Franziska Klein
Quelle:
Magazin Dran 4/2024, SCM Bundes-Verlag