«Christen sollten Menschen von Morgen sein»
Wege zu einer christlichen Netz-Kultur wollte die Netzwerktagung am letzten Samstag in der Thomaskirche «Im Gut» in Zürich-Wiedikon aufzeigen. Die Tagung führte rund hundert Personen zusammen, die in verschiedener Art beraten (Seelsorger, Psychologen, Besuchsdienst im Gefängnis, Pastoren, Psychiater, Diakone, Therapeuten).
Dr. phil. Markus Müller stellte in seinem Einstiegsreferat einige bekannte (Denk-)Muster in Frage: «Die meisten hier im Publikum sind nach der DNA der Moderne geprägt. Sie wollen die gegenwärtigen Umstände optimieren und besser machen. Dieser Gegenwartsoptimierungswahn wird aber in Zukunft nicht mehr tauglich sein. Was fehlt, ist überhaupt die Hoffnung auf eine Zukunft. Wir brauchen also Hoffnungsstifter, Zukunftserzähler, die in Gottes Verheissungen verankert sind. Wir Christen sollten Menschen von Morgen sein!»
Nicht bloss auf eine Not reagieren
Die Seelsorger und Berater mahnte er, nie bloss auf eine Not zu reagieren. «Christen sind Menschen, die sich der Diktatur der Not entsagen. Scheitern gehört in jedem Lebensentwurf dazu, umso mehr brauchen wir Netzwerke von Lebensliebhabern.» Markus Müller versteht darunter Menschen, die unabhängig von den Umständen Hoffnungsstifter sind und hilfreich für andere unterwegs bleiben.
Christen könnten darin Vorreiter sein, ist der langjährige Chrischona-Direktor überzeugt. Müller schilderte dazu ein Erlebnis in der Heimstätte Rämismühle, wo er als Heimpfarrer tätig ist: «Eine 90-jährige Frau hatte einen Hirnsschlag und liegt seither angebunden am Bett. Als ich sie besuchte, sagte sie 'Herr Müller, sehen sie, der Heiland hat mich immer noch nicht zu sich geholt. Warum wohl?' Ich erwiderte: 'Was denken Sie, warum er dies noch nicht getan hat?' - 'Wahrscheinlich soll ich noch ein paar Menschen ermutigen', antwortete die alte Frau. Diese Art der Lebensliebe und Zukunftsliebe kann einen Unterschied machen, meinte Müller und ermutigte die Seelsorger, sich selbst als Hoffnungsspender zu verstehen. «Menschen brauchen keine Reparaturwerkstätten, sondern Netzwerke der Hoffnung.»
«Junge Menschen wollen nicht behandelt werden»
Die Netzwerktagung in der Thomaskirche bestand auch aus diversen Workshops, an denen Fachleute ihre Erfahrungen zum Thema «Aufgefangen im Netz» weitergaben. So berichtete etwa Pfarrer Markus Giger in seinem Workshop von der Zürcher Streetchurch, einer kirchlichen Gemeinschaft, die sich als Auffangnetz und Integrationsort für Jugendliche aus zerstörten Familienverhältnissen versteht, über seine Motivation, sich ganz und gar auf das Gegenüber einzulassen. «Junge Menschen wollen nicht behandelt werden, sie wollen das Leben teilen und begleitet werden.» Deshalb verstehe die Streetchurch ihren Dienst auch als ganzheitliche Lebensschule.
Martin Mächler von der Chrischona Zürich nahm an Gigers Workshop teil und staunte, wie es der Gemeinschaft gelingt, Jugendliche ganzheitlich zu begleiten.
Auch Emma Braun, Beraterin in Ebikon (LU), war ganz begeistert, mit wie viel Herz man bei der Streetchurch auf die Leute eingeht. «Das motiviert mich, auch selbst so auf Menschen einzugehen und mich in diesem Sinn zu engagieren.»
Bereits die fünfte Netzwerktagung
Die Netzwerktagung fand am letzten Samstag zum fünften Mal statt. Sie wurde von den Fachverbänden ACC, AGEAS, CDK, CISA und VBG organisiert. Sie wollte aufzeigen, welche (christlich) geprägten Netze es bereits gibt und wo im Blick auf die Zukunft Handlungsbedarf besteht. Darüber hinaus fanden Beraterinnen und Berater, die oft im «stillen Kämmerlein» arbeiten und schwere Schicksale mittragen, an dieser Tagung einen Ort zum Austauschen. Im Zuge der Vernetzung der Fachverbände sind in den letzten Jahren verschiedene regionale Netzwerke entstanden.
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Datum: 14.09.2015
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet