Irak: Einmal Hölle und zurück
Livenet: Sie sind vor wenigen Tagen aus dem Irak zurückgekommen. Haben Sie Ihre Eindrücke schon verarbeitet?
Volker Baumann: Nein, das ist in so kurzer Zeit nicht möglich. Der Norden Iraks gleicht zurzeit einer Hölle. Massen von Vertriebenen, Flüchtlingscamps, ungezählte Einzelschicksale. Praktisch jeden Tag kommen neue Schreckensmeldungen hinzu. Nur drei Tage nach meiner Rückkehr hat mir unser Partner aus Bagdad ein Mail geschickt. Zwei Autobomben explodierten wenige Sekunden nachdem er und seine Frau an dem Wagen vorbeigegangen waren, beide blieben unverletzt. Ihr Tod hätte unser ganzes Hilfsprojekt gefährdet und damit verheerende Folgen für Tausende gehabt. Niemand weiss, was morgen sein wird.
Wie kann man die Situation nach Ihren Eindrücken kurz beschreiben?
Mit dem Wort Hölle. Ein Leiter der kurdischen Autonomiebehörde hat die Milizen des «Islamischen Staates» als «Feinde der Menschlichkeit» bezeichnet. Das betrifft die Brutalität der IS, die kaltblütig mordet, schändet, skrupellos Menschen vertreibt. Massenexekutionen sind dokumentiert, Frauen und Mädchen wurden auf dem Markt wie Sklaven für 40 US-Dollar verkauft. Was ihnen angetan wurde, lässt sich denken. Christen und Yeziden sind besonders betroffen. Angst ist eine der stärksten Waffen der IS geworden.
Welche Alternativen zur Flucht hatten die Christen aus Mosul, deren Familien dort seit Jahrhunderten lebten?
Es gab drei Alternativen: Übertritt zum Islam, Zahlung einer hohen Kopfsteuer oder Tod. Ich habe Familien getroffen, die innerhalb einer Stunde nach dem Eintreffen der IS ihr Haus verlassen haben. Einige konnten mit dem Auto flüchten. Dabei blieb alles persönliche Eigentum zurück, um möglichst viele Menschen mitzunehmen. In einem mir bekannten Fall sind zehn Personen in einen Viersitzer geflohen.
Kennzeichnet die angesprochene Brutalität der IS die Situation umfassend?
Leider nicht. Der Terror hat viele andere Folgen. Ich habe gerade von unserem Partner in Bagdad gehört, dass er eine Christin aufgenommen hat. Ihr Mann wurde von der IS ermordet, ihr Sohn ist ein gutes Jahr alt, die Frau selbst im neunten Monat schwanger und nach all dem Grauen dem Wahnsinn nahe.
Ihr ganzer Besitz besteht nur in der leichten Kleidung, die sie trägt. Und sie ist nur eine von vielen. Oder die Schulsituation: Allein in der Provinz Duhok sind derzeit 673 Schulen durch Flüchtlinge belegt. Die Ferien sind eigentlich beendet, wurden aber notgedrungen um einen Monat verlängert. Doch damit ist das Problem nicht gelöst. Von dem Terror sind also nicht nur die Flüchtlinge betroffen, sondern die ganze einheimische Jugend. Und ohne Bildung – welche Zukunft haben sie? Die Folgen des Terrors, gerade die Langzeitfolgen, sind in ihrer Gesamtheit noch gar nicht abzuschätzen.
Hat die Jugend überhaupt eine Zukunft?
Ganz nüchtern: die allermeisten nicht. Es ist eine Tragödie! Ich habe viele Mädchen und Jungen im Alter zwischen etwa zehn und 18 Jahren gefragt, welchen Beruf sie später einmal ausüben wollen. Vielleicht 80% der Befragten sagten Ingenieur oder Arzt. Diese Kinder sahen Zerstörung und wurden mit Tod, Schwerverletzten, alten Menschen konfrontiert, die sich zu Fuss in der Hitze über Berge schleppen, um ihr Leben zu retten. Um helfen zu können, wollen viele Arzt werden bzw. als Ingenieur am Wiederaufbau ihres Landes mitwirken. Doch ohne Schulbildung bleibt das ein Traum.
Zudem ist der Grad der Traumatisierung der Vertriebenen erschreckend. Ich sprach mit einem Fachmann. Er schätzte auf der Grundlage seiner aktuellen Erfahrungen, dass über 90% der Kinder schwer traumatisiert sind. Wir können uns vorstellen, welche Auswirkung das auf die Zukunft des Landes hat.
Sind auch andere Teile des Iraks von diesem Drama betroffen?
Das ganze Land ist betroffen. Man geht von derzeit etwa 1,4 Millionen Flüchtlingen landesweit aus. Über 520'000 wurden in der Nordprovinz Duhok aufgenommen, viele sind nach Bagdad gekommen. AVC hilft sowohl im Norden als auch unserem Partner in der Hauptstadt. Seine Mails und Anrufe sind jedes Mal verzweifelte Hilferufe. Die Einzelschicksale schnüren einem die Kehle zu. In Bagdad kämpfen sie noch mit zusätzlichen Problemen. Am Nachmittag klettert das Thermometer meist auf über 50°C. Gekochtes Essen verdirbt in wenigen Stunden, Wasser ist ungenießbar heiß, nachts finden die Menschen nur wenig Schlaf. Dazu kommt grenzenlose Hoffnungslosigkeit. Leute, die vielleicht vor wenigen Monaten noch wohlhabend waren, sind heute bettelarm und sehen keine Perspektive.
Woher kommen die erwähnten Flüchtlinge in Bagdad?
Die allermeisten aus der Ninive-Ebene. Dort sind Hunderte Jahre christliche Tradition ausgelöscht worden. Unser Partner und seine Christengemeinde haben Busse gemietet, fahren nach Arbil, holen dort Vertriebene ab, kehren aus Sicherheitsgründen auf Umwegen nach Bagdad zurück und quartieren sie bei sich zu Hause, ihrem Garten oder in angemieteten Räumen ein. Danach beginnt die tägliche Betreuung. In seinem oft 24-stündigen Arbeitstag stürzt eine Krise nach der anderen auf unseren Partner ein. Schlaf findet er kaum noch; seiner Familie und den Gemeindeältesten ergeht es ähnlich. Mich beeindruckt diese Haltung tief.
Letzte Frage: Was sind die grössten Sorgen und was kostet die Nothilfe?
Die Sorgen sind sehr verschieden. Im Norden ist es der bald einsetzende kalte Winter, in dem die leichte Kleidung nicht vor dem Erfrieren schützen wird. In Bagdad ist es derzeit noch die mörderische Hitze und die unzureichende materielle Unterstützung. Dazu überall die Frage: Was bringt die Zukunft?
Kosten? Unbegrenzt! Die Mindestversorgung einer vierköpfigen Familie kostet monatlich mindestens 130 Franken. Und das reicht eigentlich nicht aus. Bei 1,4 Millionen Flüchtlingen sind das jeden Monat 45 Millionen Franken, realistisch eher 50 Millionen. Dass Hilfsorganisationen um Spenden bitten, wird verständlich. Auch AVC ist für die Notleidenden darauf angewiesen und bittet darum.
Zur Webseite:
Aktion für Verfolgte Christen und Notleidende (AVC)
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Datum: 31.10.2014
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet