Europarat

Zur Identität gehört Religion

Die kulturelle Debatte in Europa muss die «religiöse Dimension» einschliessen. Dies fordert ein Bericht des Europarats. In der Debatte zum Bericht konnten am letzten Dienstag erstmals  Religionsvertreter im Rahmen einer ordentlichen Parlamentssitzung des Europarats sprechen. Am Mittwoch machte der türkische Premier Erdogan in Strassburg vor, wie er mit kulturellen Differenzen umgeht.
Vielfalt auf christlicher Grundlage: Kinderchor am Protestantenfest in Strassburg, Oktober 2009.
„Macht der Türkei“: Recep Tayyip Erdogan vor dem Europarat.
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Die kulturelle Vielfalt, die europäische Gesellschaften auszeichnet, verursacht laut dem Bericht heute Spannungen und «Trennungen, die den sozialen Zusammenhalt stören». Der Bericht, der in zahlreiche Empfehlungen mündet, wurde von der Luxemburger Liberalen Anne Brasseur namens des Ausschusses für Kultur, Wissenschaft und Bildung im März vorgelegt.

Religiöse Vielfalt mit Respekt behandeln

Je ein Vertreter der Protestanten, der Katholiken und der Orthodoxen Europas, der Leiter der türkischen Religionsbehörde und der Oberrabbiner von Russland konnten am 12. April zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats sprechen. Der Vertreter der EKD, Prälat Dr. Bernhard Felmberg unterstrich, Religion sei «integraler Bestandteil individueller und kollektiver Identität“. Menschen dürften nicht auf ihre Religion reduziert werden: «Diskriminierung geschieht oft dann, wenn wir nicht unterscheiden, wann ein Merkmal gerade wichtig ist und wann nicht.»

Staaten müssen Rahmen für Dialog erhalten

Der deutsche Kirchenmann hob hervor, dass alle Religionen einen wertvollen Beitrag zum Gemeinwesen leisten können und auch sollten. Im Christentum gebiete schon der Öffentlichkeitsauftrag des Evangeliums den Kirchen, das Evangelium in Wort und Tat zu verkündigen. Offene, pluralistische Gesellschaften könnten von den verschiedenen Beiträgen der Religionen profitieren. Sie müssten aber die Rahmenbedingungen dafür erhalten. Die ungestörte Religionsausübung und ein regelmässiger Dialog des Staates mit den Religionsgemeinschaften seien dafür unerlässlich. Dass ein solcher Dialog im Vertrag von Lissabon für die Europäische Union verbindlich vorgeschrieben sei, sei vorbildhaft.

Der Bevollmächtigte betonte aber auch, dass es nicht nur eine religiöse Seite des interkulturellen Dialogs gebe, sondern auch eine kulturelle Seite des interreligiösen Dialogs: «Wenn Vertreter und Geistliche neu zugewanderter Religionen die Sprache des Landes nicht richtig sprechen, ihr Recht und ihre Kultur nicht richtig verstehen, haben wir ein Problem. Das gleiche gilt, wenn Traditionen fremder Kulturen – etwa hinsichtlich der Rolle der Frau – in der Diaspora für sakrosankt erklärt werden», unterstrich Felmberg.

Erdogans Loblied auf die starke Türkei

Mehr Wellen als die Religions-Debatte warf am Mittwoch, 13. April, der Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. In seiner Rede skizzierte Erdogan seine Perspektiven für das Miteinander von Christen und Muslimen. Er kritisierte, dass «Polarisierung in Europa zunimmt». Die konfliktreiche Geschichte von Morgen- und Abendland müsse auf das hin gelesen werden, was den Austausch und den Fortschritt in Frieden ermögliche.

Ärger über EU-Vorhaltungen

Die Türkei habe der Welt bewiesen, dass säkularer Islam und Demokratie zusammengehen könnten, sagte Erdogan vor den Abgeordneten. Die Türkei brauche Europa, Europa die Türkei. Der Premier, mit der islamistischen AKP an die Macht gekommen, pries die Errungenschaften seines Landes, das bei den Maastricht-Kriterien besser dastehe als manche europäischen Staaten. Er könne daher nicht verstehen, äusserte er spitz, dass die EU-Beitrittsverhandlungen durch «falsche Vorwände und mit populistischen Absichten hintertrieben» und laufend neue Hindernisse aufgerichtet würden. «Die Türkei ist ein Land mit beachtlicher Macht»; sie habe einen starken Willen zur Lösung ihrer Probleme bewiesen.

«Keine Zensur»

Vorwürfe über eine Einschränkung der Pressefreiheit in seinem Land wies Erdogan zurück. Die zurzeit inhaftierten 26 (!) Journalisten seien nicht wegen ihrer Meinungsäusserungen in Haft, sondern wegen Verbindungen zu terroristischen Organisationen, sagte er auf Fragen von Parlamentariern. «Vorwürfe über Zensur und Unterdrückung der Medien entsprechen nicht der Realität.» Er erklärte sich bereit, die Lage der Pressefreiheit in seinem Land von einem Abgesandten des Europarats untersuchen zu lassen.

Abgeordnete beleidigt

In der Debatte beleidigte Erdogan die französische Abgeordnete Muriel Marland-Militello. Sie hatte sich über seine harschen Bemerkungen über Frankreich beschwert und zudem seine beschönigende Schilderung der Religionsfreiheit in der Türkei in Frage gestellt. Erdogan erkundigte sich zunächst, ob Sie Französin sei, und sagte laut der Zeitung «Die Welt» dann grinsend: «Bei uns in der Türkei sagt man, ‚Du bist französisch geblieben gegenüber der Türkei‘, um zu sagen, dass jemand keine Ahnung hat.» Nach den Worten eines Fraktionskollegen ist Marland-Militello türkischer Herkunft; sie hat Orientalistik und Politikwissenschaften studiert und ist in der Stadt Nizza für Kulturelles zuständig.

Der Europarat wurde 1949 gegründet und umfasst heute 47 europäische Staaten einschliesslich Russland und der Türkei. Er ist ein von der EU unabhängiges Forum für Debatten über allgemeine europäische Fragen. Er fördert Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Die parlamentarische Versammlung wird derzeit vom Türken Mevlüt Çavuşoglu geleitet, das Ministerkomitee von Ankaras Aussenminister Ahmet Davutoglu. Der zum Europarat gehörige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheidet häufig zu Fragen der Religionsfreiheit.

Zum Thema :
Website des Europarats 

Datum: 18.04.2011
Quelle: Livenet / Europarat

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