Faktencheck Christentum

Sind die Kreuzzüge ein unauslöschliches Verbrechen?

Die Kreuzzüge verliefen blutig; dafür wurden die Kreuzritter oft verurteilt. Doch aus heutiger Distanz betrachtet, hatten die Kreuzzüge auch Auswirkungen, die bis heute deutlich zu spüren sind – und dies nicht nur im negativen Sinn.
Kreuzritter (Bild: Screenshot Serie «Knightfall»)

Ursprünglich waren es friedliche Mönche, welche in den Nahen Osten gingen, um den Wallfahrern nach Jerusalem zu dienen. Sie errichteten Herbergen und Spitäler. Das Leben war aber in jenen Gegenden unsicher. Derart viele Pilger wurden von Räubern überfallen, dass sogar die notorisch friedlichen Mönche begannen, sich zu ihrem Schutz zu bewaffnen. In der Folge entstanden jene eigenartigen Ritterorden, d.h. Ritter, welche eigentlich Mönche waren. Sie wurden nicht zufällig in Jerusalem gegründet. 

Überfluss von Gefühlen

Mehr als bösartiges Kalkül waren die Kreuzzüge in den Nahen Osten vor allem ein Überfluss von Gefühlen. Darum waren sie grösstenteils miserabel organisiert, chaotisch, unnütz und kosteten viele Europäer ihr Leben, schon bevor sie ihr Ziel erreichten. So soll es sogar einen Kinderkreuzzug gegeben haben, der von Hunger und Krankheit dezimiert die Alpen überquerte und bereits an den Ufern des Mittelmeeres zum Stillstand kam, wo die Überlebenden von Sarazenen als Sklaven verkauft worden seien. Mehr als einem schrecklichen Verbrechen an der muslimischen Welt gleichen die Kreuzzüge grossenteils eher einer Selbstmordaktion der Christenheit. 

Einfluss des arabischen Denkens

Sie forderten den Tod heraus; fürchteten sich nicht vor ihm, denn von der Pilgerreise nach Jerusalem – ob bewaffnet oder nicht – erwarteten sich die Europäer Sündenvergebung (George E. Kirk, A Short History of the Middle East, Frederick A. Praeger Publishers, New York, P. 45). Wer dabei starb, glaubte, direkt ins Paradies zu gehen. Derartige Lehren über den ewigen Wert einer Pilgerreise finden sich zwar eigentlich nicht in den Evangelien, wohl aber im Islam. Nach Jahrhunderten islamischer Expansion war der Einfluss des arabischen Denkens auf Europa offensichtlich enorm. Die Europäer vermischten östliches mit westlichem Denken, ohne es zu merken.

Bevor man vorschnell die Reaktion der Europäer verurteilt, muss man fairerweise die islamischen Anstürme auf die Christenheit betrachten. Nicht nur der Nahe Osten, sondern ganz Nordafrika war rasend schnell mit dem Schwert unterworfen worden. Bereits um 720 waren die arabischen Eroberer in Frankreich. Jahrhundertelang sah es dann so aus, als ob ganz Europa jederzeit in die Hände der Muslime fallen würde. Auch die Schweiz wurde geplündert. Regelmässig wurden die südeuropäischen Küstenstreifen von muslimischen Piraten verwüstet. Über eine Million Europäer wurden in die Sklaverei verschleppt. Es müsste eigentlich niemanden verwundern, dass die Europäer zurückschlugen. Sowohl in Frankreich, Spanien, als auch in Italien-Sizilien und dem Osten. Erst das moderne Europa verurteilt seine Vorfahren dafür aus sicherer Distanz.

Schlachten und Verträge

Das schlimmste Gemetzel der Kreuzfahrer soll bei der Eroberung von Jerusalem 1099 statt gefunden haben. Muslime sprachen später von bis zu 70'000 Getöteten. Moderne Forscher halten sich eher an die viel kleineren Zahlen der neutraleren Juden, welche von 3'000 Toten sprachen (Nikolas Jaspert: Die Kreuzzüge. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, S. 42.). Allerdings hatten schiitische Eroberer nur ein Jahr zuvor Jerusalem erobert und ähnlich viele Tote hinterlassen. Davon spricht niemand.

Schiiten, Sunniten, Mameluken, Seldjuken, Türken, Fatimiden: Die Muslime des Nahen Ostens waren viel zu fest mit ihren eigenen Bürgerkriegen und den Invasionen viel bedrohlicherer asiatischer Völker beschäftigt. Sie nahmen die Kreuzfahrer nicht als den bösartigen grossen Feind wahr, gingen teilweise mit ihnen sogar Allianzen gegen andere Muslime ein (George E. Kirk, P. 46). Es gab auch friedliche Phasen, so etwa 1229, als Kaiser Friedrich II. aufgrund persönlicher Freundschaft mit Sultan al Kamil einen Vertrag aushandelte, in dem ihm Jerusalem und einige umgebende Orte offiziell übergeben wurden.

Dafür mag es mehrere Gründe gegeben haben. Die Kreuzzüge hatten nicht zuletzt eine wirtschaftliche Dimension: «Der christliche Pilgerverkehr ins Heilige Land war für die Mameluken ein viel zu profitables Geschäft, als dass sie es hätten stoppen wollen.» (George E. Kirk, P. 52).

Hätten die Kreuzritter sich mit dem Kaiser von Konstantinopel und den unterworfenen christlichen Völkern des Nahen Ostens verbunden, so wären sie eine echte Gefahr für die Araber geworden. Doch solche Pläne gab es nie. Im Grossen und Ganzen begnügten sie sich mit Ländereien am Mittelmeer. Die arabischen Kernlande waren nie von ihnen bedroht. Das Khalifentum der Abbasiden wurde nicht von Europäern, sondern von Mongolen zum Ende gebracht. Dabei wurden allein bei der Eroberung von Baghdad Hunderttausende hingemetzelt. Und allein jener Krieg kostete insgesamt Millionen von Menschenleben. Und das geschah ziemlich gleichzeitig mit den Kreuzzügen.

Auswirkungen bis heute

Trotzdem gibt es heute keine arabische Bitterkeit gegen Mongolen. Noch verurteilen die heutigen Mongolen ihre Väter für die Berge von abgeschnittenen Köpfen, welche sie höher als jedes Gebäude und jede Moschee aufrichteten. So ist halt die Geschichte der Welt. Überall blutig. Wir modernen Europäern sind vielleicht die einzigen Völker, welche sich derart Mühe geben, ihren Vätern Schuld zuzuschreiben und sie von oben herab für längst vergangene Kriege zu verurteilen, obwohl gerade wir mehr Gutes von ihnen geerbt haben als der Rest der Welt.

Jenes Europa, welches die Kreuzritter mit dem Einsatz ihres Lebens verteidigten, enthielt nämlich offensichtlich bereits den Kern zur Entwicklung einer einzigartigen, sehr wertvollen Kultur. Nur hier entstanden später die allgemeinen Menschenrechte, die Demokratie, die allgemeine Schulpflicht, Universitäten, welche die wissenschaftliche Revolution hervorbrachten und, nicht zu vergessen, die moderne Medizin. Gerade zur Zeit der Kreuzzüge führte die katholische Kirche die sogenannte gregorianische Reform durch, in welcher sie die Sklaverei innerhalb Europas überwand und – ohne es zu wissen – die Grundlage für spätere Entwicklungen mit weltweiten Auswirkungen legte.

Dies Alles lässt sogar mich als Pazifist den Einsatz der Kreuzritter aus einer anderen Perspektive sehen. Auch wenn ihre Motive unterschiedlicher Art waren, so verdanke ich ihrem Opfer doch letztlich das moderne Europa, in dem ich heute lebe.

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Datum: 01.03.2022
Autor: Kurt Beutler
Quelle: Livenet

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