Peinlicher Rechtsstreit

Freibrief für Antisemitismus?

Die Sozialwissenschaftlerin und Mitbegründerin der «Grünen», Jutta Ditfurth bezeichnete den Journalisten Jürgen Elsässer in einem Fernsehinterview als «glühenden Antisemiten». Jetzt soll das Landgericht München klären, ob und wann man jemanden überhaupt so nennen darf. Und dabei legt die Vorsitzende Richterin nahe, dass Antisemitismus nur im Zusammenhang mit dem Dritten Reich möglich sei.
Die Sozialwissenschaftlerin und Mitbegründerin der «Grünen», Jutta Ditfurth
Chefredaktor von Compact Jürgen Elsässer
Henryk M. Broder

Der Streit entzündete sich an Jutta Ditfurths kritischen Äusserungen über eine angebliche Unterwanderung der Friedensbewegung und Montagsdemonstrationen durch neurechte Gruppierungen. Einen prominenten Vertreter, den Journalisten Jürgen Elsässer, nannte sie explizit «Antisemit». Die einstweilige Verfügung Elsässers dagegen wurde bereits aufgehoben, jetzt allerdings geht es vor dem Münchner Landgericht darum, was überhaupt ein Antisemit ist.

Judenhass wird «wegdefiniert»

Die Vorsitzende Richterin in München definierte ihre Auffassung folgendermassen: «Ein glühender Antisemit in Deutschland ist jemand, der mit Überzeugung sich antisemitisch äussert, mit einer Überzeugung, die das Dritte Reich nicht verurteilt, und ist nicht losgelöst von 1933 bis '45 zu betrachten vor dem Hintergrund der Geschichte». Insgesamt bezeichnete sie den Vorwurf des Antisemitismus als «Totschlagargument».

Hierauf reagierten nicht nur jüdische Kommentatoren befremdet. In der Konsequenz hiesse dies, dass der Vorwurf des Antisemitismus auf die 12 Jahre der Nazidiktatur beschränkt bliebe. So erklärt der Berliner Rechtsanwalt Nathan Gelbart in der «Jüdischen Allgemeinen», diese Haltung «produziert … gerade ein juristisches Totschlagargument, verhindert faktisch die Möglichkeit, Antisemiten beim Namen zu nennen, und schränkt die Meinungsfreiheit von Presse und Literatur in verfassungsrechtlicher und historischer Hinsicht in bislang nicht gekanntem Umfang ein». Judenhass vor und nach der NS-Zeit würde damit quasi wegdefiniert.

Der Begriff Antisemitismus

Nun ist der Begriff «Antisemitismus» nicht leicht zu fassen. Die Motive für Judenfeindlichkeit sind nationalistisch, sozialdarwinistisch oder rassistisch. Wissenschaftlich unterscheidet man frühen Antisemitismus (1800-1879) von modernem (1879-1945) oder sekundärem (nach 1945). Henryk M. Broder ergänzt im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall: «Es gibt den Antisemitismus, der aus dem Bedürfnis resultiert, das Dritte Reich zu entlasten, und denjenigen, der dem Drang entspringt, sich mit dem Palästinensern zu solidarisieren. Neben dem «Antisemitismus ohne Juden» gibt es auch den «Antisemitismus ohne Antisemiten» und natürlich den «importierten Antisemitismus», dessen Protagonisten ihren Migrationshintergrund auf Anti-Israel-Demos ausleben.» Doch bei aller Schwierigkeit, den Begriff durch die Geschichte hindurch eindeutig zu fassen, ist ein gemeinsames Merkmal seine pauschale Ablehnung, Verleumdung, Diskriminierung, Unterdrückung, Verfolgung bis hin zur Ermordung von Juden.

Christlicher Antisemitismus

So wie es unter vielen Christen eine besondere Israel-Verehrung gibt, die alles, was aus dem «Heiligen Land» kommt, als sakrosankt betrachtet, gibt es auch eine Form des Antisemitismus. Hierin wird besonders betont, dass Kirche und Gemeinde Israel als Volk Gottes abgelöst hätten. Dieser Gedanke wurde in der Kunst früher oft in allegorischen Frauenfiguren ausgedrückt: Die «Gemeinde» triumphiert darin über ihre Dienerin «Israel».

Das scheinbare Ende des Antisemitismus-Problems

Das scheinbare Ende des Antisemitismus-Problems, wie es die Münchner Richterin offensichtlich im Blick hat, greift allerdings viel zu kurz. Judenfeindlichkeit lässt sich nicht dadurch «entsorgen», dass man sie hinwegdefiniert.

Natürlich ist die grundlose Bezeichnung einer Person als Antisemit rechtlich eine Schmähung und Persönlichkeitsverletzung, wenn sie nämlich «ohne Sachbezug» erfolgt. Doch wer Verschwörungstheorien über Juden verbreitet oder sich bewusst in ihrem Umfeld bewegt, muss als das bezeichnet werden können, was er ist, als Antisemit.

Henryk M. Broder schliesst seinen Bericht über «glühenden Antisemitismus» jedenfalls pointiert: «Die vorläufige Ansicht der Münchner Presserichterin könnte der erste amtliche Schritt zur Abschaffung des Antisemitismus in Deutschland sein. Übrig bleiben dann nur noch Antisemiten, die wie ein Lagerfeuer gemütlich vor sich hin glühen.»

Datum: 20.10.2014
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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